Ich kann nichts anfangen mit dem Gejammer über die 9-Millionen-Schweiz. Ja, die Züge sind manchmal voll, aber nach einem Vierteljahrhundert Pendeln zwischen Züri und Winti muss ich sagen: Das waren sie schon zur Zeit von 7 Millionen. Auch ein Gemoschte am Morgen und am Abend kann die Tatsache nicht überdecken, dass der Gesamtauslastungsgrad der SBB bei nur einem Drittel liegt. Wer auch in Stosszeiten unbedingt freie Plätze will, will daher auch einen tieferen Deckungsgrad. Und das ist eine Kostenfrage, oder in leichter Sprache: Sauteuer. – Andere Probleme der 9-Millionen sind hausgemacht, etwa wenn das bürgerliche Parlament alle wissenschaftlichen Fakten ignoriert und grad mal wieder Autobahnen verbreitern will. Es handelt sich da – pardon, wenn ich offene Türen einrenne, aber die in Bern haben das nicht kapiert – um einen klassischen Reboundeffekt, um ein Gesetz aus der Systemtheorie, das sehr vereinfacht besagt, dass mehr Strassenangebot auch mehr Strassennachfrage generiert. Solche Effekte sind keine Frage menschlicher Unzulänglichkeit, sondern sie laufen zwingend ab, weil die Anreize entsprechend gesetzt werden: Ich sehe, dass mehr Kapazität vorhanden ist, also benutze ich sie auch. Und weil wir das alle tun, sind wir flugs wieder Stau. Wer Strassen sät, wird Verkehr ernten. Auch ohne Bevölkerungszunahme.
Noch falscher wird’s, wenn behauptete Folgen der Bevölkerungsentwicklung, «die gefährdete Stromversorgung, die schlechtere Qualität unserer Schulen und die zunehmende Kriminalität» (Blocher – puh, dieses Herrliberg muss ja die pure Hölle sein!), entweder gar keine sind, oder dann schlicht die Folgen einer falschen Politik, die man auch lassen könnte. Wenn die Bauernsame Nahrung für Tiere statt für Menschen anbauen will, wenn die bürgerlichen Mehrheiten weiterhin fossile Energieträger unterstützen, wenn nicht mal bestehende Gesetze zur Kostenmiete korrekt vollzogen werden, oder wenn die bürgerlichen Lobbyisten in der Gesundheitskommission alle Ansätze zur Prämiensenkung vereiteln, dann muss man halt die Schuld der Zuwanderung in die Schuhe schieben, weil man ja irgendwie vom eigenen Versagen ablenken muss. Über Strassenausbauten zu debattieren in einer Gesellschaft, in der (zu) viele Autofahrten überflüssig sind, ist pervers. Über die mangelnde Lebensmittelselbstversorgung zu jammern in einer Gesellschaft, die pro Kopf mehr als 330 Kilo essbare Lebensmittel fortschmeisst, ist krank. Über Wohnungsnot zu klönen, derweil die institutionellen Investoren unverblümt sagen, es sei nicht ihre Aufgabe, mehr günstigen Wohnraum zu bauen, sondern möglichst hohe Renditen zu erzielen, ist zynisch. Oder Wahlkampf.
Eine 9-, ja auch eine 10-Millionen-Schweiz ist möglich, das steht ausser Frage. Ob sie nötig ist, das steht auf einem anderen Blatt. Dazu müsste man sich zur Abwechslung mal über Ziel und Zweck von Wachstum unterhalten. Wer aber polemisch nur auf die schiere Zahl zielt oder rassistisch auf die Art der Zuwanderung, lenkt ab von den eigentlichen Fragen: Wie wollen wir uns entwickeln? Wie verteilen wir die Güter gerecht? Wie gehen wir mit Knappheiten um? Wie mit der Demografie? Und wie war das nochmals mit der nachhaltigen Entwicklung, Netto-null und weiteren Sonntagspredigten? Das alles sind nämlich Fragen, die auch eine 3-, 5- oder 7-Mio-Schweiz beantworten müsste. Wir haben zu viele Reformstaus, nicht zu viel Zuwanderung. – So, und nun, hopp, ab mit Ihnen an die Urnen! Und wählen Sie ums Himmels Willen weise!
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