Die Sonntagsverkäufe sind abgehakt, die Konsumorgie namens Advent liegt für ein Jahr hinter uns, die Verkäuferinnen können durchatmen. Nun noch schnell das Feiertagsfilet verputzen, dreimal rülpsen, die Päckli auswickeln und das Fitnessabo erneuern. Oder was halt sonst an Festtagsklischees so ansteht. Wobei leider das meiste nackte Realität ist. Das folgende allerdings auch: Jeden Montag stehen über 60 Personen (seitdem die Ukraine-Flüchtlinge sich ins System eingeschlauft haben, eher gegen 70) bei der Abgabestelle Oerlikon der Organisation «Tischlein deck dich» an, (wo ich seit über einem Jahr arbeite, daher weiss ich das). TDD ist eine nationalen Organisation gegen Lebensmittelverschwendung und für die Unterstützung von Armutsbetroffenen. Wer bei uns bezugsberechtigt ist, erhält für den Gegenwert von einem symbolischen Franken wöchentlich ein Poschtiwägeli voller Lebensmittel, die von Grossverteilern gratis geliefert werden, worauf sie von unbezahlten Freiwilligen in Räumen, die von den Besitzern ebenfalls gratis zur Verfügung gestellt werden, an die Bezugsberechtigten verteilt werden.
TDD betreibt alleine in der Stadt sechs Abgabestellen (156 im Land), versorgt also über tausend Menschen. Dazu kommen Projekte wie das vom Verein Incontro an der Langstrasse oder das von Amine Diare Conde in der Autonomen Schule. An beiden Orten stehen tausende von Menschen Schlange, bei Wind und Wetter und Saukälte. Dann gibt es Sozialwerke wie die Heilsarmee oder von Pfarrer Sieber, die ebenfalls Lebensmittel günstig oder gratis abgeben oder Suppenküchen betreiben. Da kommen nochmals hunderte Hungrige hinzu. Und das in der reichsten Stadt des reichsten Landes der Welt.
Es ist nicht ganz einfach herauszufinden, warum das so ist, und zugleich ist es simpel. Manche finden sich schlicht und einfach nicht zurecht im Dschungel unserer Sozialinstitutionen; sie beanspruchen zum Beispiel keine Ergänzungsleistungen, obwohl sie ein Anrecht darauf hätten. Manch andere haben eine zu grosse Familie – sieben bis elf Köpfe sind bei uns nicht selten – und einen zu kleinen Lohn, als dass das Einkommen ausreichen würde. Manche wiederum sind überhaupt nicht in unser Sozialsystem eingebunden, und bei manchen wissen wir schlicht nicht, warum sie bei uns sind. Bezugsberechtigt sind sie nur über eine gewisse Bürokratie, man braucht eine Bezugskarte von einer Sozialfachstelle – ohne Grund und Aufwand gibts in unserem Land nichts.
Das ist der eine Skandal, der andere ist die Lebensmittelverschwendung. Sie ahnen gar nicht, wie viel einwandfreie, tipptoppe Ware bei uns abgegeben und damit vor dem Chübel gerettet wird. Manches davon ist der reine Industriedreck – anders kann man das nicht nennen –, aber es gibt auch viele leckere und gesunde Lebensmittel, auch vegane (hüstel, die bleiben halt oft im Laden liegen…). Mit den statistischen 330 Kilo Lebensmitteln pro Kopf und Jahr, die wir wegschmeissen, könnten jede von uns eine weitere Person verköstigen – eine 16-Millionen-Schweiz wäre versorgbar. Ich weiss manchmal gar nicht, auf welcher Grundlage eigentlich bei uns Landwirtschaftsdebatten geführt werden, die Lage ist komplett grotesk. Und dass die Lebensmittelabgabe für Bedürftige da natürlich nur ein winziger Tropfen auf heissen Steinen darstellt, ist auch klar, aber gäng söfu. – So. Genug für dieses Jahr. Ich bitte um Entschuldigung. Ich wollte Ihnen nicht den veganen Festtagsbraten vermiesen. Sie haben ihn sich verdient. Aber eben nicht nur Sie.
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