Und zack! sind alle liberalen Vorsätze wie weggewischt. Nichts mehr mit «Die Freiheit des Individuums hat ihre Grenze allein bei der Freiheit des nächsten!» oder mit «Mehr Freiheit, weniger Staat!» Es braucht nur ein Attentat in der sogenannt freien Welt, und in der NZZ wischt sich der rédacteur en chef den Schaum vom Mund, rückt die Krawatte zurecht und hackt etwas von mehr Überwachung der Kommunikationsnetze in die Tasten und von mehr staatlicher Intervention im Sicherheitsbereich und einer massiven Einschränkung der individuellen Freiheitsrechte. Liberalismus à la carte.
Andernorts reisst man sich am Riemen. Wenige Tage zuvor wurde uns angekündigt, dass das selbst ernannte Leitmedium des Liberalismus das tun werde, was zu erwarten war, nämlich dass es in Form einer ganzen Salve von Leitartikeln der neuen Mehrheit im Parlament den Tarif durchgeben werde. Etwas, was der Köppel zwar jede Woche tut, aber das ist offenbar nur eine Stimme aus der Schmuddelecke. Nein, eine regelrechte liberale Agenda («Was die Schweiz tun muss») wurde uns versprochen, von der Demontage der Altersvorsorge über die Privatisierung der Staatsbetriebe (was nicht mal der FDP-Chef will) über die Seligsprechung des Freihandels (auch in der Landwirtschaft!) bis zur Quadratur des Zirkels (Bilaterale ohne Vergrämung der SVP). Ein Horrorweihnachtswunschzettel der scheinliberalen Ellenbogenpolitik, und das Ganze unter dem hoffnungsfrohen Titel «Revitalisierungskur». Der Tonfall dabei ähnelt einem IS-Pamphlet, alles Böse ist boko haram («Linke Ideen sind Sünde»), und alles Gute, der Weg, die Wahrheit und das Leben kommt von der liberalen Seite, denn es gibt nur einen Gott und die alte Tante ist seine Prophetin.
Reality Check: Was kann denn die neue Mehrheit, die da zur Befehlsausgabe aus der liberalen Ideologiezentrale zitiert wird, ausrichten? Nicht ganz zu Unrecht weist Ruedi Strahm darauf hin, dass das Parlament schon in der vergangenen Legislatur immer wieder weder gross rechts noch links, sondern vor allem defensiv und reaktiv entschieden hat, und dass es schon seit längerem primär dem europäischen und globalen Nachvollzug hinterherhechelt, wenn auch unter Absingen wüster Lieder. Siehe Bankgeheimnis.
Die Mär von der Inhaltsleere des Wahlkampfes, ein Topos der Medien, so vorhersehbar wie Blatters Untergang, hat etwas viel Schlimmeres überdeckt, nämlich dass die Siegerparteien in der Tat keine Rezepte für die Herausforderungen haben, die auf uns zukommen. Als da sind: Ungeheuerlichkeiten wie die postkolonialistische Liberalisierung von Dienstleistungen (TISA), die Staatsgarantie für Konzernniederlassungen (TTIP), die Energiewende inmitten eines kaputten Energiemarktes, der Klimaschutz jenseits des illusorischen 2-Grad-Ziels oder die Flüchtlinge (die notabene nichts anderes tun, als ihre individuelle Freiheit eigenverantwortlich so gut wie möglich zu wahren und sich beispielsweise vor dem IS zu retten).
Da reicht Maulheldentum nicht mehr, da wird auch der Liberalismus Farbe bekennen müssen, was er nun will: den Anschluss ans globale Freihandels-Reich oder die Grenzen dichten, Freiheit nur fürs globale Kapital, aber nicht für die Menschen, Abbau von Handelsschranken unter gleichzeitigem Aufbau von Grenzschranken gegen Flüchtlinge oder das Bekenntnis zur Solidarität auch dann, wenn grad keine Terrorattacke dies gesellschaftsfähig erscheinen lässt.
Ob darum mit Schaum vor dem Mund oder mit dem Sammelruf zur Schlacht: Dem (Neo)Liberalismus stehen strube Zeiten bevor. Anzunehmen ist, dass die Rechte einmal mehr von ihren Widersprüchen ablenken und die innenpolitische Agenda als Ersatzschlachtfeld benutzen wird, weil man sich hier noch als Kampfsau profilieren kann. Vital wie schon lange nicht mehr. Und liberal nur, wenn’s einem passt.
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