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Wissen sie, was sie tun?

Die Haltung der Parlamentsmehrheit in Bern zum Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) ist ein politischer Skandal, trotz aller Versuche, mittels haarsträubender Argumentationen und juristischer Spitzfindigkeiten das Geschwätz von «fremden Richtern» bestätigen zu wollen. Das kann nicht kaschieren, dass das Parlament dem Ansehen der Schweiz einen schweren Schaden zufügt. Aber damit nicht genug. Verstärkt wird das durch ein weitgehend unkommentiertes Statement des Politologieprofessors Vatter und seiner Mitarbeiterin Freiburghaus von der Uni Bern. Die beiden reden eine undemokratische Einmischung der Justiz herbei und vermischen dabei Politik und Recht, ganz nach dem Motto: Wenn ein SVP-Mitglied dafür verurteilt wird, weil es einem SP-Mitglied eine Ohrfeige gegeben hat, dann ist das ein politisches Urteil.

Vatters These, dass «Schweizer Gerichte wichtige politische Entscheidungen treffen», ist allerdings ein GAU mit Ansage. Es geht im Grunde um eine zunehmende (gewollte?) Ignoranz der schweizerischen Praxis gegenüber, auch Gerichte und andere juristische Gremien nach politischen Kriterien, etwa nach dem Proporzsystem, bzw. via politische Prozesse zusammenzusetzen, also beispielsweise, indem Parteien die Kandidat:innen portieren. In meiner Wahrnehmung beruht diese Praxis auf einem pragmatischen Ansatz, nämlich dass dieser Prozess meinetwegen der schlechteste von allen ist, nur dass niemand einen besseren, ausgewogeneren, transparenteren und adäquateren Weg kennt.

Denn es ist eine Binsenwahrheit, dass Politik und Justiz Zwillinge sind – zwei eigenständige Wesen, aber eng verwandt. Erstens kann sich die Justiz den gesellschaftlichen Haltungen nie gänzlich entziehen, und umgekehrt ist der Gesetzgeber eine politische Staatsgewalt. Anzunehmen, Politik und Justiz seien komplett unabhängige Systeme, wäre also mehr als nur naiv. Der Vorwurf, dass das Urteil des EGMR ein politisches sei, grenzt an Infamie. Gerade in der Schweiz, die ja keine Verfassungsgerichtsbarkeit will, ist das Wesen der demokratischen Hegemonie über die Gesetze überaus heikel. Klar, der Souverän hat das Recht, das Grundgesetz zu verändern und damit also die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu gestalten. Das Volk hat das letzte Wort, und zwar mit einfacher Mehrheit. Das heisst aber im Umkehrschluss eben genau nicht, dass das Volk alles darf. Dem EGMR, der im Fall der Klimaseniorinnen als Korrektiv waltete, daher vorzuwerfen, er würde «politische Entscheide» fällen, ist eine Nebelpetarde.

Dass das Bundesgericht zum Beispiel in Appenzell Innerrhoden das Frauenstimmrecht durchsetzte, war nicht ein politisches Urteil, sondern die Mahnung, eine einmal unterzeichnete Abmachung auch einzuhalten. Vatters Vorwurf, dass sich das Bundesgericht in solchen Fällen «gleich selbst zum Gesetzgeber» mache, ist sachlich haltlos und politologisch falsch. Natürlich kann man es so drehen, wenn man denn will. Aber dann man muss sich die Frage gefallen lassen, in welche Taktik man sich da einklinkt. Letztlich geht es nämlich um die Gewaltenteilung, eine unabdingbare Grundlage im Rechtsstaat. Ich schliesse mich Daniel Binswangers Aussage in der ‹Republik› an: «Wer nicht will, dass Gerichte demokratische Volksentscheide einschränken, revidieren oder zurückweisen können, der muss schlicht die Gewaltenteilung aufgeben.» Dass ausgerechnet ein Politologieprofessor einer Schweizer Uni das will, entsetzt mich als Wissenschaftler und als Politiker.

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