Artikel, p.s. Zeitung

Schreibende Männer

Tag 35. Der alte weisse Mann sitzt in Herrliberg, und die Decke fällt ihm auf den Kopf. Er nimmt seine Feder und schreibt einen Leserbrief: «Rettet die Umwelt. …Wir haben vergessen, wie wichtig die Umwelt ist. …Doch nun merkt man: Die Umwelt bringt Arbeit, Lohn, Einkommen. …Doch man vergisst: Wer die Umwelt kaputtmacht, zerstört die Lebensgrundlage. Die Umwelt in einem Tag zu zerstören, ist leicht. Sie wiederaufzubauen, dauert Monate und Jahre. …Wer nur die Gesundheit schützt und die Umwelt zerstört, zerstört die Lebensgrundlage.»Zufrieden legt er die Feder weg. Gut gebrüllt, Löwe! Silvia kommt und guckt ihm über die Schulter: «Ey Alter, was schreibst du für ein Scheiss, echt jetzt, Mann?»Die Frau spricht komisch, denkt er. Vielleicht in Zungen. Aber wo sie recht hat, hat sie recht. Er nimmt das Federmesser, kratzt das Wort «Umwelt»aus und setzt «Wirtschaft»ein. Dann pfeift er dem Butler: Ab zur NZZ!

 

Tag 36. Boris holt tief Luft und nimmt dann seinen Chugi zur Hand. Ein Beschluss muss her, aber asap! Diese Gesundheitsfanatiker muss man stoppen, die übertreiben masslos. Die Pandemie ist nur ein Vorwand, er, Boris, durchschaut das sofort. Niemand stirbt einfach nur durch ein Virus, schon gar ein Brite! Die NHS will einfach mehr Geld raffen, das ist es. Es wäre cool, diesen Beschluss mit einem ironischen Titel versehen zu können, der ihnen schon mal den Tarif durchgibt. Boris denkt nach. Plötzlich leuchten seine Augen. Er hustet kurz und schreibt dann: «Operation Letzter Atemzug». Boris lacht in sich hinein. Genau! So muss man denen kommen. Dann hustet er nochmals.

 

Tag 37. Ernst zieht seinen Mantel an und geht nach draussen. Er will aufs Tram. An der Haltstelle trifft er diesen Banker, wie hiess er doch gleich? Egal. Der Banker quatscht ihn an. Ob er nicht etwas für die notleidenden Banken tun könne. Es sei schlimm, niemand wolle mehr einen Kredit. Und diejenigen, die einen wollten, seien arme Schlucker, die ihn eh nicht zurückzahlen könnten. Ernst denkt nach. Der Banker ist ihm gefährlich nahe, bestimmt weniger als 2 Meter. Er denkt schneller. Und dann leuchten seine Augen. Never change a running system! Sagen die Linken nicht immer: «Gewinne privat, die Kosten dem Staat»? Er sagt zum Banker: Komm, wir machen ein Rettungspaket. Ihr gewährt Kredite, ich übernehme das Risiko. Der Banker strahlt. Ernst strahlt. Richtig verstanden, ist dieses Social Distancing eben doch eine tolleSache!

 

Tag 38. Der alte weisse Mann von der Falkenstrasse seufzt. Der Leitartikel drängt, die Aktionäre tun es nicht minder. Er setzt sich hin. Er denkt: Das Einfachere zuerst. Er klappt den Laptop auf und richtet den Blick zur Decke. Der Inhalt ist ja klar: Irgendwas gegen den überbordenden Staat. Kaum haben wir etwas Krise, muss die Linke das wieder schamlos ausnutzen und nach Staatsintervention schreien. Das muss gebrandmarkt werden. Ein erneuter Seufzer–und dann ist sie da, die Schlagzeile: «Seuchen-Sozialismus»! Einen winzigen Augenblick lang gönnt er sich eine tiefe Zufriedenheit. Er denkt, moll doch, irgendwie kann ich es noch. Da klopft es an die Tür. Die Sekretärin streckt den Kopf herein. «Gell, Chef, Sie vergessen nicht, das Formular für die Kurzarbeit auszufüllen, das sollte heute noch weg!»Er seufzt. Ach ja, das hätte er jetzt beinahe vergessen.

 

Tag 39. Die Affen im Zoo langweilen sich. Keine Sau vor dem Gitter. Man weiss nicht, warum. Von einem Tag auf den anderen kommen keine Gaffer mehr. Die Affen sind ratlos. Wie will denn der Zoo überleben ohne seine Attraktion, diese komischen Typen, die sich zum Affen machen, eigenartige Dinge am Leib tragen, nur ein kleines Fell auf dem Kopf haben und andauernd Bananen fressen? Die Affen zucken mit den Schultern und fangen dann ein neues Spiel an: WC-Rollen umherschmeissen. Draussen, in der leeren Savanne, furzt einsam eine Giraffe.

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Auf Balkonien

Tag 1. Die Wahrheit ist immer das erste Opfer im Krieg. Es stimmt nicht, dass die NZZ die Druckerschwärze reduziert hat, damit man ihre Druckerzeugnisse, toilettengerecht zugeschnitten, sekundärverwerten könne. Es wird viel gelogen in diesen Tagen. Trotz beruhigender seitengrosser Inserate der Detaillisten, man müsse nicht hamstern, es habe von allem genug, sehe ich immer, wenn ich vom Home-Office heimkomme, rudelweise Hamster mit Dinkelvollkornhörnlipaketen in den Backentaschen. Gleichzeitig leeren sich die Gestelle mit den Haushaltrollen reziprok zum Anstieg der Anzahl WC-Rollen-Witze. Das ist so beunruhigend wie die Stimme vom BAG-Koch, wenn er wieder die neuesten Fax-Zahlen bekannt gibt. Absurde Zeiten.

 

Tag 2. Ganz vorne beim Wettbewerb um das Wort des Jahres: «Systemrelevanz» (knapp vor «Lagerkoller»). Damit verbunden: Die Umwertung aller Werte. Denn als systemrelevant erweisen sich nun plötzlich all die Tätigkeiten, die es nie waren, etwa die Kinderbetreuung. Wer’s noch nicht gemerkt hat: Grossmütter sind ihr Geld wert. Das wussten wir zwar schon vorher, aber wissen ist nichts, erfahren ist alles. Das weiss sogar ein Virus, das scheints ohne Gehirn auskommt und trotzdem die Welt regiert. (Schämen Sie sich – ich merke doch, was Sie jetzt gedacht haben!) Grossmütter gehören zu den Bevölkerungsgruppen, die, wie etwa das Pflegepersonal, nicht streiken können, da sie sonst den Kindern schaden würden, nicht den Mächtigen. Daher legt das Virus sie lahm, die Grossmütter, und damit auch die Mächtigen.

 

Tag 3. Ehre dem Balkon! Und sorry an alle, die keinen haben. Der Balkon erweist sich in diesen Tagen als unverzichtbar, lebensrettend, psychohygienisch, politisch. Egal, ob man, wie in Italien, darauf singen muss, egal, ob man, wie bei uns, darauf Beifall klatschen muss, oder auch, ob man, wie im Kosovo, sogar lautstark dagegen protestieren muss, dass die Amis die Regierung absetzen – der Balkon ist überall die Bühne, das Fenster zur Welt. Und wenn das so weitergeht, wer weiss, werden wir alle darauf Ferien machen.

 

Tag 4. Apropos Ironie: Die Eltern sollen, wenn sie zuhause mit ihren Kindern Schule machen, mit ihnen Hochdeutsch sprechen, damit ihre Rolle klar wird. Nicht Papi, sondern Oberlehrer. Wird offenbar öfters verwechselt. Ernsthafter ist dagegen schon die Beobachtung, dass es nicht weit her ist mit der Resilienz unserer Systeme. Es bricht alles mit beunruhigender Geschwindigkeit zusammen: Gesundheit, Arbeit, Sport, Kultur, Verkehr. Wer das noch nötig hat, merkt erst jetzt, wie wichtig der Staat ist. Und sei es nur, um schnell einen zinslosen Kredit beantragen zu können, was dem Helikoptergeld sehr nahekommt, weil es bei Zahlungsunfähigkeit nicht zurückbezahlt werden muss.

 

Tag 5. Man mag das ja allen gönnen in diesen Tagen, und man ist beeindruckt von der Rasanz solcher Entscheidungen. Nur wünscht man sich, dass auch die Bedürftigsten in der Gesellschaft ebenso unbürokratisch Hilfe bekommen, auch und gerade, wenn sie kein KMU sind oder noch nicht mal Papiere besitzen. Oder vom derart begünstigten Arbeitgeber entlassen worden sind, was man nicht anders nennen kann als eine Sauerei. Ein Grundeinkommen für alle Einkommenslosen, und sei es nur vorübergehend, würde so manches entschärfen. Aber der Bund will noch nicht mal über Arbeitsplatzsicherung reden. Die Krise, sie legt vieles offen, auch manch wahre Gestalt.

 

Tag 6. Das Obligatorische ist heuer freiwillig. Soweit sind wir also gekommen.

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Zu blöd zum Leben

Doch doch, das geht: Man kann mich schon noch schockieren. Hat grad letzthin der Dok-Film über Food Waste geschafft. Obschon ich wusste, wie die Zahlen in der Schweiz aussehen, war ich baff. Nur ein Beispiel: Es heisst immer, die Schweizer Landwirtschaft könne uns nur zu 50 Prozent selbst versorgen. Erstunken und erlogen: Würde nicht so viel auf den Feldern und in der Verwertungskette weggeworfen, könnten wir uns zu wohl rund 80-90 Prozent selbst versorgen. Mit etwas mehr zusätzlichem Vegetarismus leicht auf 100 Prozent zu bringen, weil Tiere viel Platz brauchen. Autarkie also.

 

Langsam hab ich’s gründlich satt. Wo man hinsieht, sieht man Verschwendung, also Verbrauch ohne Nutzen. Und das ist nicht nur ein ökonomisches oder ethisches Thema, sondern Verschwendung verstellt den Blick auf die effektiven Probleme. Wir fechten gegen Spiegel statt für die richtigen Fragen. Wir kämpfen gegen die blanke Dummheit, statt für eine bessere Zukunft.

Ernährung: Kein Problem, auch nicht für neun Milliarden Menschen, wenn wir den Food Waste zurückfahren würden. Stromversorgung: Wir könnten zwei AKW morgen schon abbauen, wenn wir die Verschwendung abstellen würden. Ganz zu schweigen davon, wenn wir effizienter wären, also zum Beispiel abfahren mit all den stromfressenden Geräten, was niemandem weh täte, aber über 20 Prozent des Verbrauchs reduzieren würde. Verkehr: Wenn all die tollen Menschen, die alleine in ihren fetten SUV nasebohrend im Stau sitzen, sich zu zweit oder gar zu dritt in ihre Karre setzen würden, würden wir weder über Lärm, noch über Luft noch über Platz noch über verschwendete Gelder im Strassenbau reden. So einfach wäre das. Es bräuchte nur etwas mehr Vernunft und weniger Konjunktiv. Nicht mehr Regeln, auch nicht mehr Geld. Nur Vernunft. Quasi menschliche Kernkompetenz. Und genau darum hab ich’s so was von satt: Dominieren tut lauter Schwachsinn, der sich hinter Wörtern wie Fortschritt und Komfort oder gar Bedürfnis versteckt, und wehe, man versucht zaghaft auf so etwas wie Selbstverantwortung zu verweisen!

 

Etwa Rosengarten. Da bezieht die zuständige Regierungsrätin die Ohrfeige ihres Lebens, und was tut sie? Trötzeln, statt klipp und klar für das Naheliegende zu sorgen, nämlich dass halt einfach etwas weniger Autos auf dieser Strasse fahren. Wie wenn die Menge gottgegeben oder eine physikalische Grundkonstante oder sonst was wäre. Ist sie nicht. Über 90 Prozent sind Quell-/Zielverkehr, also hausgemacht. Also abstellbar. Eigenverantwortlich oder reguliert, letztlich egal. Die Verweigerung des Ausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, wie Kant das freundlich formulierte, vulgo Blödheit, ist das Problem, nicht die Verkehrspolitik.

 

Glaubs wohl, dreht die Klimajugend langsam durch. Tun wir Alten ja auch. Das mit dem ökonomischen Stromsparpotenzial von 30 Prozent begleitet mich schon mein gesamtes (!) Berufsleben lang. Das mit der Stromverschwendung heisst nichts anderes, als dass wir diverse AKW zu viel gebaut haben, bloss weil wir zu blöd sind, um Anwendungen zu vermeiden, von denen gar niemand etwas hat. Wie etwa ein Zimmer beleuchten, in dem niemand drin ist. Oder ein Elektroauto von 2,5 Tonnen Gewicht herumzufahren, mit einem Leichtgewichtsdeppen am Steuer. Und das mit dem Food Waste ist an Groteskheit derart unüberbietbar, dass mir die Worte fehlen. Und das passiert eigentlich nie.

Auch wenn die Dinos nur ein etwa faustgrosses Hirni hatten, dürften sie nicht aus Doofheit ausgestorben sein. Wir dagegen haben alle Chancen dazu.

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Zu viele?

Vermischt sich die xenophobe Politik der SVP mit ihrer plötzlich entdeckten Ahnung, dass sich keine Partei um das Thema Klima herumdrücken kann, dann entsteht ein Zombie, nämlich die Neuauflage einer bräunlich gefärbten Pseudo-Ökologie. Ein Gespenst geht durch die politische Debatte: die Meinung, dass all die ökologischen Fragen, die uns täglich beschäftigen, überlagert seien durch den banalen Umstand, dass wir scheints zu viele Menschen auf der Welt sind. Oder in der S-Bahn. Oder im Stau. Und daher müsse man nur die Zuwanderung begrenzen, um das Klima zu retten. Sie werden das in den nächsten Monaten noch sehr oft hören, leider auch von links.

 

Das Gemeine daran ist, dass es einen ebenso winzigen wie banalen Wahrheitskern gibt, denn natürlich hat die Anzahl Menschen mit ihrer Umweltbelastung irgendwie zu tun. Ohne Menschen keine Umweltzerstörung, schon klar. Nur ist die Sache wesentlich komplexer, und schon alleine, dass wir allen Ernstes eine Debatte führen, ob es noch ökologisch verantwortbar sei, Kinder auf die Welt zu stellen, weist darauf hin, dass viel schiefläuft. Selbstmord aus Angst vor dem Tod ist eine dumme Strategie.

 

Wissenschaftlich ist die Frage schon lange beantwortet. Reduziert man die Formel für den Klimawandel auf die wesentlichen Faktoren, so ergibt sich: Anzahl Köpfe x Konsum (Fr/Kopf) x Effizienz (kWh/Fr) x CO2-Intensität (CO2/kWh) = Gesamtbelastung. Und aus unserer Schulzeit wissen wir: Willst du die Summe reduzieren, kannst du irgendeinen Faktor verkleinern, egal welchen. Einfache Mathematik, aber hier etwas unterkomplex. Denn es ist so, dass die einzelnen Faktoren nicht unabhängig voneinander stehen. So etwa sind «Konsum» und der ökologische Fussabdruck (als Masszahl für die Umweltbelastung) miteinander verbunden. In leichter Sprache: je reicher, desto umweltbelastender. Oder umgekehrt: je umweltfreundlicher, desto ärmer. Eine zweite Korrelation wird das demografische Paradox genannt. Es heisst vereinfacht: je reicher, desto tiefere Geburtenrate. Vergleicht man eine Weltkarte der Geburtenraten und eine des Fussabdrucks, so sehen sie beinahe gleich aus.

 

Diese Zusammenhänge sind seit Jahrzehnten als das Problem der nachhaltigen Entwicklung bekannt. Es geht darum, ärmeren Ländern die Möglichkeit für eine Entwicklung mit mehr «Konsum» und damit beiläufig auch für eine Senkung ihrer Geburtenrate zu ermöglichen, ohne dass sie in die Falle der Umweltzerstörung hineinlaufen. Genau das versucht die UNO seit langem, bisher allerdings ohne grosse Erfolge. Es ist in diesem Sinne verlogen, einfach auf die Anzahl der Menschen zu zielen, denn Mensch ist nicht gleich Mensch. Wir in den reichen Ländern zerstören unendlich mehr Welt als x-fach so viele Menschen in armen Ländern. So einfach ist das.

 

Eine Geschichte von Marcel Hänggi drückt das besser aus als alle Grafiken: Ein verwöhnter unsympathischer Junge lädt ein paar Gspänli zum Kindergeburtstag ein. Als die riesige Torte serviert wird, schnappt er sich den grössten Teil und verzieht sich in eine Ecke, wo er vor sich hin mampft und alle anschnauzt, die ebenfalls etwas möchten. Andere bedienen sich ebenso schnell am Kuchen, und mehrere Kinder bekommen nichts. Das Fest ist dann schnell zu Ende. Ein leer ausgegangenes Kind geht nach Hause und erzählt seiner Mutter alles. Der Vater kommt hinzu und meint lakonisch: Klarer Fall, der gute Junge hat viel zu viele Gspänli eingeladen… Gandhi sagte dazu: Die Welt ist gross genug für jedermanns Bedürfnisse. Aber nicht für jedermanns Gier.

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Das System schlägt zurück

70 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer befürworten eine Flugticketabgabe. Aber nur fünf Prozent CO2-kompensieren ihren Flug. Das tönt auf den ersten Blick nach Verlogenheit. Ist es aber nicht. Es ist vielmehr ein klarer Ruf nach einem System Change. Und eine Absage an die faule Ausrede namens Eigenverantwortung. Es ist eben nicht so, dass die eigenverantwortliche CO2-Kompensation eine moralische Angelegenheit wäre, quasi BürgerInnenpflicht. Und schon gar nicht wird das in der Bevölkerung derart ideologisch aufgeladen, wie das der Liberalismus tut.

 

Sondern es ist einerseits viel bequemer, wenn man nicht noch irgendwo auf dem Formular ein Kästchen für die Kompensation ankreuzen muss, sondern wenn die Flugticketpreise die Kompensation bereits enthalten. Zweitens ist das viel gerechter, weil dann alle mehr bezahlen müssen und nicht nur ich. Drittens ist es effektiver, weil der Anreiz anders gesetzt wird. Und viertens merken die meisten Menschen sehr wohl, dass die systemische Änderung mehr bringt als eine individuelle. Genau wie klug gesetzte Verbote übrigens, wäre dem anzufügen. Zudem ist das regulierte Leben eine alltägliche Realität. Es fragt sich ja nicht, in welchem Ausmass, es fragt sich nur: Durch wen? Gerade wieder haben wir am WEF vorgeführt bekommen, wer uns tagtäglich reguliert. Nicht zu knapp und komplett undemokratisch. Hofberichterstattungsmässig begleitet durch die Embedded Press. Und gehöbelet durch den Bundesrat.

 

Letzthin lief auf SRF dazu der ultimative Dokumentarfilm zum 50-jährigen WEF, leider mal wieder abends spät. Die Schlüsselszene: Man sieht einen Sitzungsraum mit grossem Tisch, und in der Mitte thronte Trump. Rund um ihn herum die absolute Spitzencrew der globalen Grossfirmen-CEOs. Alle waren sie da, die mächtigen Männer der höchstdotierten Firmen, von Nestlé bis Apple. Und dann gings los. Reihum durfte jeder, wie die Schulerbuben vor dem Samichlaus, sein Sprüchli aufsagen, und das ging stereotyp so: Ich bin der und der und habe in letzter Zeit so und so viele Milliarden in den USA investiert… und dann unterbrach ihn der Trump auch schon, weil mehr interessierte ihn ja gar nicht, und er lobte den braven Knaben und straffte dann den Bauch, damit ihn der nächste pinseln konnte. Reihum, wie gesagt. Und man sass vor der Glotze und tat ebenso. Mit offenem Mund. Ja klar, naiv, ich weiss, aber müssen denn die Mächtigen, bloss weil sie vergessen haben, dass eine Kamera im Raum anwesend ist, gleich alle Scham verlieren?

 

Aber nun gut, es war lehrreich. Das System funktioniert, zumindest auf der einen Seite. Und ein kleines bisschen Hoffnung ist ja auch in dieser Nachricht: Wenn Blackrock und andere Grossinvestoren aus Gründen, die uns allen ein Rätsel sein werden, mal beschliessen sollten, all diese Firmen nicht mehr zu unterstützen, nicht mehr in fossile Energien und braune Ärsche zu investieren, sondern in risikoärmere Technik, fortschrittlichere Regierungen und erneuerbare Ressourcen, aus dem einfachen Grund, weil hier mehr zu verdienen ist, dann könnte sich das Klimablatt durchaus schnell wenden. Oder sagen wir mal: schneller. Vielleicht sogar innert nützlicher Frist. Vermutlich hätten wir dann zwar einen System Change ohne Change. Und nicht mal daran mag ich glauben, aber ich sag mal: Reden wir drüber, wenn’s soweit ist. Vermutlich finden die Mächtigen der Welt ja eh nie einen Ausweg aus den Enddärmen der Trumps dieser Welt. Aber dort, pardon für dieses Bild, spielt die Musik.

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Rentenstreik

Manche Leute sollte man einfach hauen. Etwa den Erfinder – Erfinderin? – der Schlauheit «the early bird catches the worm». Da hatten wir also totally early ein Zimmer gebucht, leicht gestresst, weil die Alpen schon sämtlich ausverkauft schienen, und wir hatten, optimistisch wie der australische Premierminister angesichts des nur kurzzeitig ausbleibenden Regens, keinerlei Stornierungsrecht angekreuzelt. Passiert ja in diesem Kaff nie etwas. Das Kaff war Paris. Merde. Ou plutôt: grève.

War dann allerdings nur halb so schlimm. Einer von drei TGVs fährt jeden Tag, zudem doppelstöckig und mit zwei Kompositionen. Unsere waren dabei. In Paris dagegen war Ende flüssig. Die Metro funktionierte nur mit den beiden Linien, die automatisiert fahren – Thatcher-Fans aufgepasst: die Automatisierung erledigt auch den Streik an sich! –, und das hiess: Run auf die Busse! Sardinenbüchse die grosse Freiheit dagegen. Hinwiederum führte das dazu, dass man getrost schwarzfahren konnte. Eine Kontrolleurin hätte zwei Tage gebraucht, um im Bus von vorne nach hinten zu gelangen.

Mir blieb der Sinn der Sache etwas unklar, denn entweder machst du Streik, damit das die Menschen um dich solidarisiert, egal wie sehr sie von deinem Problem betroffen sind, oder dann machst du Service Public. Aber man merkte deutlich, dass die SNCF und die RATP eben doch nicht alle hässig machen wollten. Denn wenn nur wir Touris im Regen stehen und eine Viertelstunde auf den Bus warten, der dann entweder gar nicht oder gleich zu Dritt kommt, dann geht’s ja noch, aber wenn du tagtäglich Hunderttausende ranzig machst, weil sie mit dem Trotti zwei Stunden zur Arbeit fahren oder im besten Fall Homeoffice machen müssen, was als Coiffeuse oder als Koch nicht so gut klappt, dann kannst du mit deinen Anliegen abstinken.

Und die haben es ja in sich, Schweiz quasi ein Nasenwasser dagegen. Denn in Frankreich gibt es über 40 verschiedene Rentensysteme. Und weil Macrönchen versprochen hatte, er werde das Rentenalter heraufsetzen, hat er mit dem Widerstand vor allem derjenigen zu rechnen, die schon mit 56 in Rente gehen können, mal abgesehen davon, ob das nun gerecht ist oder nicht. Aber Streik ist das mindeste, nur dass nicht klar wird, was er bringen soll. Die realen Auswirkungen sind sichtbar auf Paris’ Strassen, aber die Massen, sie bewegen sich nicht so recht. Der Streik läuft sich tot. An Silvester hielt der Roi de Soleil eine dickköpfige Rede, und wer geglaubt hat, die PariserInnen würden es ihm mit einer totalen Absenz beim Feuerwerk heimzahlen, lag so was von falsch: Rappelvolle Champs-Elysées, obschon nach dem Fest das nackte Heimkehrchaos herrschte.

An der Heimatfront dagegen nichts Neues. Hier streikt die Politik. Phantasielosigkeit wie eh und je. Denn die Renten-Lösung ist ja einfach: Entweder weniger Ausgaben oder mehr Einnahmen. Ein höheres Rentenalter ist allerdings auch bei uns nicht mehrheitsfähig und wäre Verrat am arbeitenden Volk. Mehr Einnahmen dagegen wären im Zeitalter explodierender und brachliegender Nationalbankreserven, üppig sprudelnder Militärausgaben und einer obsoleten Schuldenbremse langsam, aber dringend zu diskutieren. Auch eine Erbschaftssteuer 2.0 wäre angesagt, schlauer dieses Mal, aber immer noch so ergiebig wie die Ignoranz australischer Premiers in Klimafragen. Oder gerne auch die Auflösung der 2. Säule zugunsten der AHV! Das wäre dann kill two birds with one stone. Vogel des Jahres 2020 ist übrigens die Turteltaube. Bonne année!

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Schöner einkaufen

Der Räuschling floss in Strömen aus dem Brunnen und tat seinem Namen alle Ehre. Der Septemberabend war milde, die Gästeschar auserlesen. Der Grund des Anlasses auf dem Münsterhof: Finissage der Grüninstallation von Heinrich Gartentor (Pflanzenkisten auf Schafwoll-Humus-Unterlage). Und dann: Grosses Staunen über die Ansprache des Gewerbevertreters aus den umliegenden Geschäften. Sie seien zuerst sehr skeptisch gewesen, aber nun seien sie begeistert! Eine wunderbare Aktion! Eine Bereicherung! Und die Kasse stimme! Daher: jederzeit wieder! (Oder so, ich zitiere aus dem Nebel der Erinnerung.) Natürlich musste ich mich mal wieder unflätig benehmen und platzierte einen munteren Zwischenruf an die Adresse der bürgerlichen Anwesenden: «Hört auf das Gewerbe!»

 

Über «das Gewerbe» wollte ich schon lange mal schreiben, obschon ich dafür komplett nicht qualifiziert bin. Vom Gewerbe verstehen Grüne nämlich rein gar nichts. Gewerbe ist konservativ, parkplatzaffin, ungrün, materialistisch und damit die wandelnde Antithese zu mir. Grünes Gewerbe ist so etwas wie ein schwarzer Schimmel oder ein netter Grüner, also nicht möglich.

 

Aber natürlich gibt es «das Gewerbe» nicht, sondern es ist so vielfältig wie die Gesellschaft auch. Zudem wird es durch die falschen Leute vertreten. Und schon gar nicht hat es eine einheitliche Meinung. Daher muss man den Gewerbeverbänden dieses Landes kein Wort glauben. Das «K» bei den KMU steht zwar ohne Zweifel unter Druck. Es sind aber weniger Parkplätze oder Behördenschikanen, die dem Gewerbe Saures geben, sondern Mietzinswucher, Globalisierung, Digitalisierung und Innovationsträgheit. Die Gewerbeverbände sind eine Ansammlung von alten weissen Männern. Kein Wunder, sind bei den letzten Wahlen zwei ihrer Häuptlinge abserviert worden.

 

Spannende Lektüre letzthin in der alten Tante, eine Reportage über das Gewerbe in der Winterthurer Altstadt. Es gibt jede Menge Sorgen – Parkplätze und Politik gehören kaum dazu. Dafür all die Auswüchse und Begleiterscheinungen des modernen Kapitalismus, von Leerständen bis zu globalisiertem Internethandel, von der Mietzinsentwicklung bis zum Einzug anonymer Detailhandelsketten. Lädeli war gestern. Die Innenstadt verödet, da nützt auch die glitzerigste Weihnachtsbeleuchtung nichts mehr. Gejammert wird natürlich über anderes: Die Rahmenbedingungen! Die Leute, die im Ausland einkaufen! Die Jungen, die gar nichts einkaufen! Der Unternehmergeist erschöpft sich im Selbstmitleid. Ideen? Fehlanzeige. Nur manchmal zarte Eingeständnisse wie das obgenannte, nämlich, dass mehr Aufenthaltsqualität mehr bringt als freie Fahrt für freie KundInnen. Dass primär der öV die Kundschaft anliefert, ist empirisch bewiesen. Die Mär vom ursächlichen Zusammenwirken von Parkplatz und Umsatz liegt an der Verwechslung von Korrelation und Kausalität, man kann geradeso gut behaupten, ein Züri-WC «bewirke» Umsatz.

 

Daher ist die angedachte Reduktion von rund zehn Prozent der Parkplätze in unserer Innenstadt goldrichtig und überfällig! Der öffentliche Raum muss wieder allen dienen, und er muss den Menschen gehören, nicht den Blechkisten. Die Devise heisst: mehr Aufenthaltsqualität in der Stadt! Und ihr werdet sehen: Zum Schaden des Gewerbes wird das ganz bestimmt nicht sein. Oder wie das Lukas Bühlmann, Direktor von Espace Suisse, formuliert: «Die Parkplatzdiskussion versuchen wir zu durchbrechen und über andere Punkte zu sprechen.» Ja. Bitte. Hört auf das Gewerbe, wenn es denn schon mal etwas Wahres sagt.

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Mittelmass

Mit der politischen Mitte konnte ich noch nie viel anfangen. Mitte ist kein Programm. Und sie hat keinen Ort. Blaise Pascal sagte: «Le monde est une sphère, dont le centre est partout, la circonférence nulle part.» Recht hat er. Man kann sich durchaus eine Welt vorstellen, in der die SVP die Mitte darstellt. Den rechten Rand will man sich dann aber lieber nicht vorstellen. Den linken schon gar nicht. Es geht also einmal mehr um Definitionsmacht. Mir glaubt man ja auch nicht, wenn ich behaupte, ich sei die personifizierte Mitte. Nicht weniger komisch ist es, wenn man uns die Operation Libero oder Gerhard Pfister als Mitte vorstellt. Wenn ich was gelernt habe in bald 40 Jahren politisieren, dann das, dass es die erste Politikpflicht ist, den Nullpunkt in die eigene Richtung zu verschieben. Alles andere sind Nebelpetarden. In einer Zeit, in der alle versuchen, sich eingemittet zu verorten – AfD-Gauland versucht das sogar mit dem staatlich approbierten Faschisten Höcke! –, stellen sich daher drei Fragen:

 

Könnte es, erstens, sein, dass man politische Mitte mit Irrelevanz verwechselt? Eine Partei, die langfristig überleben will, muss einen gesellschaftlichen Grundwiderspruch ansprechen, also einen mit existenzieller Bedeutsamkeit. Etwa den zwischen Arbeit und Kapital. Oder den zwischen Kapital und Ressourcen. Oder den zwischen Wirtschaft und Gerechtigkeit. Oder auch den zwischen Abschottung und Öffnung. Leider aber ist ein Widerspruch zwischen Links und Rechts, den die Mitte meint adressieren zu müssen, keiner. Sondern die fruchtbare Grundlage jeder Demokratie.

 

Könnte es, zweitens, und daraus folgend sein, dass man politische Mitte mit fehlender Positionierung verwechselt? Etwa, weil es nicht beliebig viele Positionen gibt, die auch als solche erkennbar wären? Denn das braucht Haltung oder Radikalität. Ich möchte nur daran erinnern, dass die ErfinderInnen unseres Bundesstaates «Die Radikalen» hiessen. Was weniger mit Radikalismus, sondern viel eher mit den semantisch zu Grunde liegenden Wurzeln zu tun hat, womit das Zu-Ende-Denken gemeint ist, das jeder politischen Haltung gut ansteht, damit gesellschaftspolitische Lücken auch wirklich mit Lösungen gefüllt werden. Schüchtern nachgefragt: Wissen Sie, zum Henker, welche Lücken die Mitte bei uns füllt? Oder wie tief die Wurzeln der GLP reichen?

 

Könnte es, drittens, sein, dass man Mitte mit mangelnder Klarheit oder Labilität verwechselt? Man tut ja gerne so, wie wenn nur die Mitte kompromissfähig wäre, wie wenn sie zum Überleben einer Demokratie unumgänglich wäre. Falsch. Nur die Ränder sind kompromissfähig (nicht zu verwechseln mit kompromissbereit), weil sie die wichtigste Voraussetzung auf dem politischen Handelsplatz erfüllen: Sie starten, siehe oben, von einer erkennbaren Position. Die Leute vergessen immer wieder, dass der Kompromiss das Endresultat eines politischen Prozesses ist, nicht dessen Ausgang. Kommt hinzu: Die Ränder vertreten klare Interessen. Welches Interesse vertritt dagegen eine Mitte? Ist das überhaupt eine Klasse? Oder nur eine Crowd?

 

Die Seele der Schweiz ist nicht in der Mitte positioniert. Sie mag erhebliche Rechtslast aufweisen, aber sie ist hoffentlich auch in Zukunft bereit, willens und fähig, Lösungen zwischen den Polen zu finden, den Weg zu suchen. Das brauchen wir, vorab in Zeiten galoppierender Donaldisierung, aber eine institutionalisierte Mitte braucht’s dazu nicht.

 

Zwischen Rechts und Links gibt es jede Menge Distanz, aber keine Lücke.

 

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Die soziale Frage

Sehr schön. Die Handbremse ist gelöst. Es geht, endlich, los! Und schon wird gemeckert. Beziehungsweise es wurde schon vor den Wahlen gemeckert: Die neue Mehrheit (die natürlich keine ist) müsse jetzt vernünftig und vorsichtig sein, dürfe es ja nicht übertreiben und müsse sich ein Beispiel an den Rechtsbürgerlichen nehmen, die es vor vier Jahren übertrieben hätten und nun dafür blutig bezahlen mussten. Vor allem in der Klimafrage müsse man nun besonnen und wohltemperiert vorgehen und die arme Bevölkerung, die ja sowieso schon hochverschuldet sei, nicht plagen. Es gebe ja noch so etwas wie eine soziale Frage der Klimawandelbekämpfung.

 

Und plötzlich, man reibt sich die Augen, gilt die SVP als Erfinderin der sozialen Frage, gell AL! Die Kosten der Bekämpfung der Klimakatastrophe seien gigantisch und wir würden das verschweigen. Das Volk verarme und werde sich ob all der klimamarxistischen Massnahmen noch massig aufregen. Und die Grünen in vier Jahren abstrafen.

 

Das kann durchaus sein. Aber es wäre ein Missverständnis. Der SVP nehme ich das nicht übel, die machen erstens schon wieder Wahlkampf und haben zweitens eh nichts begriffen. Aber wenn Linke dem auf den Leim kriechen und Ähnliches von sich geben, haben sie so einiges vom Ziel eines System Changes nicht verstanden. Daher nochmals laut und deutlich: Die monetären und sozialen Kosten des Klimawandels sind um ein Mehrfaches höher als seine Vermeidung. Fragt mal die Menschen in der dritten Welt, die vom Klimawandel besonders betroffen sind! Denn: Der Lebenswandel sogar der Ärmsten in unserer Gesellschaft bewirkt, dass die Armen global noch weniger haben. Das ist die soziale Frage jenseits unseres Tellerrands. Dass innerhalb dieses Tellerrands eine zunehmende Ungleichheit herrscht, ist damit ja noch nicht bestritten worden und bleibt Gegenstand der Tagespolitik. Aber mit dem grünen Wahlsieg hat das nun wirklich rein gar nichts zu tun. Die Machtfrage bleibt so wie sie schon immer war.

 

Apropos Macht: Die entscheidende Frage ist: Wie lenken wir diese Kosten auf die richtigen Kostenträger? Wann endlich gelingt es uns, die immensen externen Kosten, die heute von uns allen getragen werden, auch von den MieterInnen, den SozialhilfeempfängerInnen oder den Nicht-FliegerInnen, auf die Kostenverursachenden zu überwälzen? Also dorthin, wo sie hingehören. Und umgekehrt: Wie verteilen wir die jährlich 13 Milliarden Franken, die wir künftig nicht mehr für fossile Energien ausgeben werden? Oder die über 12 Milliarden, die wir beim Umweltschutz einsparen könnten, oder die 10 Milliarden ungedeckte Kosten des Strassenverkehrs, wenn sie verursachergerecht gedeckt sind? Um nur ein paar Beispiele von vielen zu nennen.

 

Diese Wahlen haben es gezeigt: Die Bevölkerung betrachtet die ökologische Frage als Hauptwiderspruch, und sie ist nur gerecht, also unter Berücksichtigung der sozialen Frage, zu lösen. Etwas anders haben wir nie behauptet. Der Auftrag ist klar, sogar wenn es den AuftraggeberInnen dereinst grausen sollte; das dann aber auch nur, weil wir die Deutungshoheit über die Folgen des Auftrags den Rechtsbürgerlichen überlassen. Dass diese ihr bisheriges System verteidigen und den Teufel an die Wand malen, ist ja klar, sie profitieren davon. Dass der System Change ein besseres Leben für alle bringen muss, ist aber ebenfalls evident. Dass wir dabei die Welt retten, ist ein willkommener Kollateralnutzen. Wenn das nun endlich deutlich wird, hat sich der grüne Wahlsieg gelohnt.

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Graben, digitaler

Ein neuer Drucker muss her. Der alte ist ein Schmierfink. Da braucht es Wochen der Recherche, des Augenscheins und so manchen Customer Journey. Die Qual der Wahl ist gross, aber endlich wissen wir, was wir wollen. Wir schleppen zu zweit ein Riesenpaket heim und stellen es in die Wohnung. Der analoge Teil der Operation «Druckerbeschaffung» ist vollbracht. Nun kommt der digitale Teil.

 

Ich würde lügen, wenn ich behaupte, der sei länger gewesen. Dafür war er irgendwie frustrierender. Die Installation hat uns zwar nur einen Halbtag gekostet, aber wir wurden das Gefühl nicht los, dass wir einfach nur Glück hatten. Weniger Können. Schon gar nicht System. Sondern Trial and Error, viel Internetsuche, Kaffee und Fluchen. Und einmal mehr die Erkenntnis: Wer schafft sowas? Wie viele Menschen in unserer Gesellschaft wären garantiert ausgeschlossen von solchen Manövern? Sind alle im Arsch, die nicht, wie wir, einen Sohn (Informatiker) oder einen Schwiegersohn (Informatiker) als Rückfallposition haben? War das der tiefere Zweck des Kinderkriegens?

 

Sie haben richtig verstanden, ich spreche vom Digitalen Graben. (Und ich schreib den mal gross, das hat er verdient.) Die FDP schaufelt grad wieder mal daran: Sie forderte den Stadtrat unlängst auf zu prüfen, «wie sämtliche Geschäfte mit der Verwaltung elektronisch und aus dem Wohnzimmer heraus, unterwegs oder im Büro verrichtet werden können. Damit soll sichergestellt werden, dass in den Verwaltungs- und Regierungsorganisationen grössere Transparenz entsteht und die sogenannten Customer Journeys der Bevölkerung smart und effizient gestaltet werden». Geil, gell? Opa gestaltet künftig aus dem Wohnzimmer heraus seine Customer Journeys mit dem Steueramt. Sämtliche Behördengänge am physischen Schalter sollen unnötig werden. Der Vorteile sind Legion: «Dadurch entlastet man die Infrastruktur (z.B. öV, Strassen etc.), steigert die Effizienz sowohl bei den Bürgerinnen und Bürger als auch bei der Verwaltung, der Geschäftsverkehr mit der Verwaltung wird papierlos und damit senkt man den CO2-Ausstoss.» Das Grüne Wunder (ich schreibs auch gross) dank Smart City! Leere Strassen! Blühende Landschaften! Und die 30-Stunden-Woche fürs Stadtpersonal, weil das ist nun ja effizient!

 

Ob so vieler Ausrufezeichen wird man schon ein bisschen nachdenklich. Können denn das alle? Wollen das alle? Gab es da nicht noch ein paar andere Menschen? Zum Beispiel die rund 16 Prozent funktionalen AnalphabetInnen, die es bei uns gibt. Die wenig PC-Affinen, die eventuell sogar keinen haben. Die ärmeren, die sich keine Technik für den Customer Journey leisten können. Also gut und gerne zusammengerechnet knapp die Hälfte der Bevölkerung. Das sieht auch die FDP. Generös sagt sie: «Selbstverständlich muss für Einwohnerinnen und Einwohner, welche digital nicht so eloquent [sic!] sind, eine Anlaufstelle geschaffen werden, an der sie entsprechende Geschäfte unter Anleitung ebenfalls erledigen können.»

 

Eine Anlaufstelle, boah ey! Der Opa, wohnhaft in Leimbach, zieht die Schuhe an und fährt nach Seebach. Oder umgekehrt. Dort ist zwar kein Schalter, aber ein Roboter, der ihm das PC-Programm eloquent erklärt.

 

Wie nannte das doch die amerikanische Philosophin Nancy Fraser treffend: Regressive Verteilungspolitik. Verbunden mit den Versprechungen des Fortschritts und einer «emanzipatorischen Fassade». Was als fortschrittliche digitale Emanzipation von analogen Fesseln daherkommt, ist ein schlecht verkapptes Survival of the fittest: Alle anderen sind Beilage.

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