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Triibhuus

Eine Menge Leute werden mich hassen wegen dem folgenden Text, aber die Geschichte ist einfach zu gut, um nicht erzählt zu werden: Es war einmal eine tolle und tolerante Stadt, die aber leider unter rot-grüner Fuchtel stand. Es herrschten Recht und Gesetz, aber, oho, lange nicht überall! Es gab da auch illegale Orte, wo sich finstere Gestalten trafen und wilde Orgien feierten. Wie zum Beispiel beim Fry auf dem Üetliberg, der aber gar nicht auf Stadtgebiet lag und daher nicht als rechtsfreier Raum, sondern als innovatives Gewerbe galt.

Auch auf einem stillgelegten Fabrikareal gab es innovatives Gewerbe. Viele Menschen lebten dort, «darunter auch Familien mit Kindern. Zusammen veranstalten sie Konzerte und Ausstellungen, zeigen Filme und betreiben ein Café», wie das die Neue Züricher Zeitung romantisch beschrieb. Aber Moment! Ein Café? Wo man richtige Getränke serviert bekommt? Aus richtigen Tassen? Ohne Mehrwertsteuer, Hygienekontrolle und Pegelstandsmessung, ob die Tassli auch richtig geeicht sind? Die braven Bürger schäumten. Sie schrien: «Rechtsfreier Raum! Behördenwillkür! Vetterliwirtschaft!» Und als sie herausfanden, dass so ziemlich alle Kinder von so ziemlich allen Stadträten auf dem Areal verkehrten, da gabs kein Halten mehr. Fleissig sammelten sie Unterschriften für eine Volksinitiative, denn sie waren gute Menschen, und in eine illegale Beiz wären sie nie, aber auch wirklich gar nie gegangen! Daher durften sie sich zünftig aufregen über das illegale Areal. Das war ihr gutes Recht.

Es erging aber in diesen Tagen eine Einladung des städtischen Gemeinderates an den hohen Landrat des löblichen Kantons Uri, man wolle sich doch am 8. September in Zürich treffen, den gemeinsamen Brückenschlag feiern und, nicht zuletzt, die Freundschaft bei einem Happen und ein paar Gläschen feiern. Im OK-Büro des Gemeinderates steckte man stundenlang die Köpfe zusammen, tüftelte am Programm und frug sich zu guter Letzt auch, wohin man denn essen gehen solle. Man hirnte und hirnte, und plötzlich schrie ein Bürgerlicher: «Ich hab’s! Wir zeigen denen, was innovatives Gewerbe ist!» Da hub ein Lärmen und Proleten an, dass die Fenster klirrten, aber am Schluss war man sich einig: Das Triibhuus sollte es sein, ein Resti am Stadtrand, romantisch in einem stillgelegten Gewächshaus gelegen – und so illegal wie öffentliches Pinkeln auf dem Bellevue. Denn das Triibhuus steht in einer Erholungszone und hätte gar nie eröffnet werden dürfen, und das wurde auch von gewerbefeindlichen Linksgrünen seit Jahren angeprangert. Aber das Baukollegium, ein stadträtliches Triumvirat in bürgerlicher Hand, hielt seine schützende ebensolche über das Triibhuus und erlaubte ihm die Beizerei – eben, weil es ja ein innovatives Gewerbe war.

Und so, meine Lieben, werden am
8. September die Honoratioren des schönen Kantons Uri, von denen manch einer immer wieder schüch nach oben blicken und sich fragen wird, ob plötzlich die Wölffli-Buebe durchs Glasdach brechen und alle verhaften, und die Grosskopfeten der Stadt Zürich einträchtig nebeneinander im Triibhuus sitzen, bechern und sich nicht von den paar Koch-Leuten beirren lassen, die staunend ums Glashaus stehen und sich inspirieren lassen, wie man das richtig macht, das illegale Beizen, so dass sogar ausgewachsene Stadträte, und nicht nur ihre Kinder, ihre Aufwartung machen.

Ich aber werde leider nicht berichten können, wie’s war, denn ich habe einen heiligen Eid geschworen, keine Geschenke über 200 Franken anzunehmen, und diese Summe wäre, bei meinem Schluckvermögen, wohl schon nach dem Apéro aufgebraucht.

 

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Krieg den Alten

Natürlich sagt niemand einer 87-Jährigen, du bist zu langsam und zu unbeholfen, du kannst deinen Haushalt nicht mehr alleine führen. Und es sagt ihr auch keiner, sie sei schon etwas nachlässig in der Hygiene und benötige offensichtlich Unterstützung beim Duschen. Und schon gar nicht ist jemand so gemein zu sagen, dass das aber ganz schön teuer komme, mit all den Medikamenten, der Spitex, den Haushaltshilfen und so weiter. Oder dass es doch ein bisschen unverschämt sei, so ganz alleine in einer grossen Dreizimmerwohnung zu hausen.

 
Auch geht niemand so weit, den Frust darüber, dass sie immer noch lebt, rauszulassen und zarte Andeutungen zu machen, dass 87 doch ein sehr respektables Alter und kaum jemand in der Familie derart alt geworden sei, und sie dürfe doch auf ein erfülltes Leben zurückblicken, wohingegen doch die Gebrechen des Alters gewiss nicht einfach auszuhalten seien, und ja, man verstehe sehr gut, wenn da eine grosse Müdigkeit sei – und vielleicht auch ein kleines bisschen Lebenssattheit?

 
Nein, das sagt nun wirklich niemand. Das muss auch niemand. Die Alten sagen sich das ganz alleine und selber. Denn es wird ihnen suggeriert. Immer und immer wieder, und mehr denn je. Und nicht durch einzelne, sondern durch «das System». Es gibt kaum einen grösseren Fluch als den Systemzwang. Höchstens noch, dass Systemzwänge in den letzten Jahren zunehmend und systematisch bestritten werden, verneint, weggeredet. Es hat schon in den 80ern begonnen mit Margaret Thatchers Diktum, dass es so etwas wie eine Gesellschaft gar nicht gebe «and people must look after themselves first». Eigenverantwortlich, selbstbestimmt, seines eigenen Glückes Schmied, und damit natürlich auch selber schuld, wenn man arm werden sollte, arbeitslos, einsam, krank. Oder gar: alt.

 
Seither ist es einfacher geworden, systemische Zwänge, also Einschränkungen, welche durch Strukturen verursacht werden, nicht durch individuelle Handlungen, zu vernütigen. Systeme sind ja nur eine ideologische Erfindung, oder haben Sie schon jemals ein System dabei ertappt, wie es grad wieder einen armen Alten am Kragen packt? Eben. Nein, niemand sagt den Alten, dass sie unnütz sind, asozial oder zumindest nicht mehr benötigt in dieser Gesellschaft, die es ja eh nicht gibt. Sie merken es auch so, etwa, wenn sie an der Kasse eine lange Schlange verursachen oder wenn sie beim Zebrastreifen nur bis in die Mitte gelangen, bevor es rot wird, oder wenn sie es nicht schaffen, am SBB-Automaten ein Billet zu kaufen. Niemand wirft ihnen vor, dass sie Nutzniessende eines Grundeinkommens namens AHV sind. Es reicht ja zu sagen, dass dieses – leider! – zunehmend nicht mehr finanziert werden könne.

 
Und darum kommen die Alten ganz von alleine auf die Idee, sich von einer Klippe stürzen zu wollen, weil sie ja niemandem «zur Last fallen» wollen. Und weil, Scheisse nochmals, die Klippen auch nicht grad häufig vorkommen bei uns, ist es genau darum nur noch ein kleiner und logischer Schritt, dass wir Natriumpentobarbital freigeben, damit auch geistig fitte Leute, die eigentlich nicht wirklich leiden, höchstens am Wohnungsmarkt, an der Grünphase auf dem Zebrastreifen oder am Mangel an Ergänzungsleistungen, und die ob alledem etwas lebenssatt geworden sind – damit also auch sie frei und willig und unglaublich eigenverantwortlich in den Tod gehen und uns so ganz zuletzt noch einmal kräftig nützlich werden können.

 
Ich aber sage: An dem Tag, an dem NaP freigegeben wird, erklärt ihr den Alten den Krieg. Und ich verspreche: An diesem Tag wandle ich mich vom Pazifisten zum Kriegsteilnehmer.

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Generalprävention

Ja, ich komme wie die alte Fasnacht hinterher, nachdem sich alle aufgeregt haben, aber auch bei mir kam eben so einiges obsi. Neulich, bei dieser TV-Adaption des Stücks von Ferdinand von Schirach, in dem es um diesen angeklagten Militärpiloten geht, der ein entführtes Flugi abschiesst, weil es auf ein Stadion zurast. Quasi ein paar Dutzend Menschen opfern statt ein paar Tausend. Und die ZuschauerInnen durften das Gerichtsurteil sprechen. Wobei er rechtlich ja so oder so schuldig war.

Der Trick mit dieser Form eines ethischen Dilemmas ist ebenso alt wie falsch und gefährlich, aber durchaus eine ernsthafte Frage, wenn es auch eine Banalität ist, dass «legal» und «legitim» nicht dasselbe sind. Ich erinnere mich an üble Präzedenzfälle in Form von Militärgerichtsprozessen gegen Dienstverweigerer in meiner Jugend. Da ich selber daran dachte, den Dienst zu verweigern, hatte ich mehrere davon besucht. Der argumentative Brüller der uniformierten Henker – sorry für die Polemik, aber Richter waren das auf keinen Fall, lesen Sie einfach weiter – war damals die folgende Geschichte: Sie gehen mit Ihrem Grosi im dunklen Park spazieren. Plötzlich taucht der Räuber Hotzenplotz auf und bedroht Ihr Grosi. Ganz per Zufall haben Sie eine fette Kalaschnikow in der Hand, aber leider sind Sie ja ein verfluchter Pazifist. Was tun Sie?

 

Nun, da würde einem ganz viel einfallen, was man tun könnte. War aber alles nicht gefragt, denn die Henker wollten nur etwas hören: Dass Sie Ihre Liebsten nämlich verteidigen würden. Und dann sass man in der Falle, bzw. monatelang im Knast. (Übrigens, falls Sie so meschugge waren zu behaupten, Sie würden Ihr Grosi dem Frieden zuliebe opfern, rettete Sie das nicht. Das gab nur Hohngelächter. Und ebenfalls Knast. Oder gar eine Einweisung in die Klapse.) Urteilen funktioniert seit dem letzten Hexenprozess anders. Oder vielleicht – siehe TV-Beispiel – auch nicht. Die ethische Begründung dieses Grundlagenirrtums einer zugespitzten Schein-Entscheidung zwischen Pest und Cholera ist nicht schwer: Das «gute» oder «richtige» Handeln, über welches die Ethik nachdenkt, ist nicht nur kontextabhängig, sondern immer auch etwas mehr als nur die Entscheidung zwischen Weiss und Schwarz. Es gibt nicht nur jeweils mehr Auswege und zu berücksichtigende Faktoren in solchen Geschichten, sondern es gibt auch eine differenziertere Betrachtung der «Schuld», die sich aus dem Handeln ergibt. Nicht zuletzt kennt unser Strafrecht ja auch eine Schuld ohne Strafe. Auch beim besagten Piloten wäre das durchaus ein Urteil gewesen, das der Komplexität schon etwas näherkommt.

Aber so richtig gefährlich wird es erst, wenn man das Prinzip auf die Politik überträgt, denn wir haben solche Pseudo-Entscheid­situationen neuerdings auch hier. Siehe etwa die Burka- oder die Verwahrungsfrage. Das ist dann nicht mehr nur Vorabendunterhaltung, sondern da dürfen in einer Demokratie alle mittun, ja, sie sollen es sogar. Nur hab ich dann etwas Mühe mit dem gesunden Volksempfinden als Laienrichter. Und der grosse Bruder, der ebenso gesunde Menschenverstand, oft bemühte Erklärung an Abstimmungsabenden, wird mit dem Volksbauch verwechselt. Statt einer differenzierten Urteilsbegründung mit Rechtsgüterabwägung gibt es einen Abstimmungskampf mit Messerstechern und fiesen Schöfli.

 

Zwar gibt es auch im Gericht Mehrheitsurteile, aber sie kommen auf eine völlig andere Weise zustande, sogar wenn alle RichterInnen einer Partei zugehörig sind. Und in Bezug auf den obgenannten Film: Die Illusion, dass der Mehrheitsentscheid immer der richtige sei, im Gerichtssaal immerhin Resultat langer Abwägungen, wird durch die Vermischung von Unterhaltung, Ethik, Recht und Politik leider nur noch gefördert. Aber nicht wahrer.

Immerhin. Der generalpräventive Aspekt der Militärgerichtsurteile von damals funktionierte: Ich fand dann doch nicht den Mut zur Verweigerung.

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Sicherer altern

Vor ein paar Jahren bekam ich Post. Nun gut, werden Sie sagen, tolle Kolumne, passiert mir ja rein gar nie. Aber solche Post bekommen Sie in der Tat nie, hätten Sie aber gerne. Der Absender war ein mir unbekannter Rechtsanwalt, und ich muss zugeben, dass ich leicht zusammenzuckte, der Inhalt des Briefes war dann aber sehr überraschend und bestand aus einer schlechten und einer guten Nachricht. Die schlechte war, dass ein Cousin meines Vaters gestorben war, die gute Nachricht war, dass er mir Geld vererbte.
Nun konnte ich mich sozusagen gar nicht an diesen Mann erinnern. Dass er märchenhaft reich gewesen sein soll, hätte ich nie mitbekommen – Reichtum meidet meine Sippe –, aber jedenfalls bedachte er auch die weitere Verwandtschaft, was sehr nobel von ihm war, Friede seiner Asche. Nicht, dass Sie jetzt denken, die Summe sei derart hoch gewesen, dass ich nicht mehr arbeiten muss und nur noch Kolumnen fürs P.S. schreiben kann, aber auch einem geschenkten Zwergpony schaut man nicht ins Maul.

Weshalb ich Ihnen das erzähle? Weil die Niederlage bei der Erbschaftssteuer-Initiative – kühner Übergang! – das Thema keineswegs obsolet gemacht hat, im Lichte der gegenwärtigen AHV-Hysterie gesehen sogar ganz im Gegenteil. Immer noch wundere ich mich über mein Volk, das die einmalige Chance versifft hat, stillgelegtes Vermögen in Ertrag umzuwandeln, ohne dass jemandem ein Haar gekrümmt wird, und es damit verpasst hat, die AHV ein für alle Mal zu sichern. Gut, Sie werden mich nachsichtig, aber bestimmt darauf aufmerksam machen, dass «dieses Volk» sich schon mal eine zusätzliche Ferienwoche verkniff oder sich mit rotem Kopf gegen Minarette aussprach, ohne je eines real zu Gesicht bekommen zu haben. Aber dennoch: Wie funktioniert das eigentlich mit der Gehirnwäsche?

Zum Beispiel so: Das Narrativ, wie Verdrehungen heute so schön genannt werden, dass die Demografie, sprich: Alterung, die Schuldige am AHV-«Debakel» sei, hat sich bereits derart stark in den Gehirnen eingenistet, dass auch ich wohl kaum mehr dagegen anstinken kann. Diese Haltung folgert mit logischer Unerbittlichkeit: Die ältere Generation ist zu zahlreich (selber schuld!), es gibt zu viele RentenbezügerInnen, ergo sollen sie weniger Rechte haben und weniger Geld erhalten. Meine Wahrheit setzt dagegen: Es kommt nicht darauf an, wie viele Leute in die Altersvorsorge einzahlen, sondern darauf, wieviel sie einzahlen. Das ist beileibe keine grammatische Petitesse, sondern eine Frage von Recht und Gerechtigkeit. Es ist der Unterschied zwischen Demografie und Verteilungskampf. Leider geht dieser politische Fakt immer mehr vergessen.

Unsere Gesellschaft ist mächtig schizophren: Gesundheitsterror wo man hinguckt, rapide zunehmende Lebenserwartung, Phantasien von 130 als Sterbealter, der Tod wird verdrängt. Dem gegenübergesetzt: Keine Jobs für Menschen 50+, schwindender Respekt vor dem Alter, das als finanziell nicht tragbar dargestellt wird. Ein weiteres Narrativ, denn die Generationenbuchhaltung, also die Kosten-Nutzen-Rechnung jedes einzelnen Jahrgangs, bringt es an den Tag: Die Jungen, so ungefähr bis zum Abschluss der Erstausbildung, kosten. Danach folgen produktive Jahre mit einem «Ertragsüberschuss», und ab dem AHV-Alter werden die Jahrgänge wieder saldo-negativ, will heissen: Jeder Mensch ist ca. die Hälfte seines Lebens ein Kostenfaktor und die andere Hälfte ist er oder sie NettozahlerIn. Der Witz ist allerdings, dass dies für alle gilt, egal, wie viele oder wenige in einem Jahrgang sind. Sie alle haben einbezahlt, wir Babyboomer also wesentlich mehr als andere, und sie alle sind vor dem Gesetz gleich. Wenn wir beginnen, die Regeln der Anzahl Betroffener anzupassen, erklären wir den moralischen und politischen Bankrott. Oder anders gesagt: Eine Gesellschaft, die auf den Pöstler angewiesen ist, um den Wohlstand etwas gerechter zu verteilen, ist gescheitert.

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Heimat first

Meine Abschlussarbeit an der Uni schrieb ich zum Thema Heimat. Und bevor Ihnen jetzt das Gesicht einschläft, möchte ich gleich nachschieben, dass das damals ziemlich der Zeit voraus war. Eine schwäbische Kollegin hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass es diesen Begriff in anderen europäischen Sprachen so nicht gibt, was immer den Verdacht nahelegt, dass auch das Phänomen so nicht bekannt ist. Quasi Volkssemantik. Sich in den Fluss schmeissen vor Heimweh, bloss weil am anderen Ufer ein Kuhhirt einen Ranz des Vaches jodelt, das erzählte man sich nur von Schweizer Reisläufern, und das waren ja nun wirklich keine Susis. «Pas d’argent, pas de Suisses», wie es damals schon hiess, scheiss auf die Romantik.

 

«I gloube, je chliner d’Wält wird, je wichtiger isch, wohär chunnt me u was si eigentlich üser Wurzle. Und i gloube, det isch so chli d’Sehnsucht vo de Lüüt…» Zitat Marc Trauffer, derzeit der erfolgreichste Schweizer (Volks)Musikant und Kitschproduzent. Er repliziert damit eines der gängigsten Klischees über den Heimatbegriff, eine Banalität aus Historikerkreisen: Herkunft ist Zukunft. Klar: Je globaler die Welt, desto verreckter der Absatz von Heimatplunder, Sehn-Süchten und Edelweiss. Kennen wir. Doch was passiert, wenn man seine Heimat unfreiwillig verlassen muss? Oder was, wenn der Ort, wohär me chunnt, fremd geworden ist?

 

Ich zum Beispiel komme aus Zollikon. Goldküste, Reichtum, Jetset. Denken Sie jetzt und liegen damit so falsch wie ein Edelweiss an der Bahnhofstrasse. Es waren in den 60ern eher: Kleinbürgertum, soziale Kontrolle und, ja, Armut. Plus Strukturwandel, Entwurzelung und ein beginnender Bauboom, der keinen Stein auf dem anderen liess. Quasi Gentrifizierung avant la lettre. Wir Jungen hatten eine breite Palette an Zukunft vor uns: von der Anwaltskanzlei bis zum Needle-Park. Beides aber gab’s nicht im Ort selber, wir sind alle ausgewandert, so wie die Jugend aus Andermatt oder Obergoms. Das Dorf übernommen haben: Firmen, Heime, Schönheitschirurgen und ein paar Reiche, die sich die ortsüblichen Mietzinsen leisten können. Kurz: Wenn ich heute durch Zollikon fahre, ist mir der Ort gründlich fremd geworden.

 

Where’s the beef? – Nun, die Romantik wurde schon lange zur Politik. Das Unbehagen angesichts der globalisierten Welt, egal, ob es sich in Kleiderordnungsgelüsten oder in der schicken Massenzuwanderung zum Schwing- und Älplerfest ausdrückt, ist zur Grundbefindlichkeit aufgerückt. Abschottung steht dabei Rücken an Rücken zum Heimatkitsch. Weltoffenheit ist kein Alternativprogramm mehr. Das Bürgertum hat sich unwiderruflich in der Lebenslüge verstrickt, dem Kapital freie Fahrt zu überlassen und die sozialen Folgen davon ‹dem Fremden› in die Schuhe zu schieben. Der liberale Kopf steckt tief im Sand und hofft, die Nationalisten werden ihn nicht in den Hintern beissen und die Linken von flankierenden Massnahmen verschonen. Die Linke hält dagegen zaghaft am Internationalismus fest, obschon dieser massive soziale Auflösungstendenzen zeigt, und gleichzeitig gelingt es nicht, ein neues Konzept zu denken, das realpolitisch, unter den bestehenden Machtverhältnissen, auch umsetzbar wäre.

 

Heimat ist daher gleichermassen ein reaktionäres Denkschema geworden wie zugleich ein innovativer Denkansatz, wenn es darum geht, unsere Arbeitswelt, unsere Solidarsysteme oder unsere Umwelt nicht einfach nur dem entfesselten Handel auszusetzen. Denn dieser kann mit dem Heimatbegriff rein gar nichts anfangen. Heimat hat mit Identität zu tun. Wenn diese schon durch eine Gesichtsverschleierung ernsthaft ins Wanken gebracht werden kann, dann haben wir wirklich ein Problem. Es gilt, die emotionale Stärke des Heimatbegriffs zu retten, ohne der völkischen Komponente eine Chance zu lassen. Und ja, das geht, denn soo speziell ist unsere Heimat nun auch wieder nicht.

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Staatskunst

Auf die Manifesta hatte ich mich enorm gefreut und bin nun hinterher entsprechend gefrustet. Sie war, sorry für die knappe Hinrichtung, der bare Jammer. Kein Vergleich mit vergleichbaren Veranstaltungen wie etwa der Biennalen in Venedig. Es gab häufig schlechte Kunst, eine komisch verzettelte Standort-Strategie, eigenartige Begleiterscheinungen wie etwa die Ausbeuter-Lohn-Debatte und eine insgesamt magere Auswahl. Die Grundidee wäre zwar toll gewesen, aber es wurde wenig draus gemacht. Am lächerlichsten, weil die Leere entlarvend, waren die Making-Ofs auf dem Floss am Bellevue. Und die grösste Resonanz hatte, wen hats wirklich gewundert, das nasenflügelerschütternde 80-Tonnen-Pfund aus dem Klärwerk. Ich möchte daher den Mantel des Schweigens darüber ausbreiten und Ihnen lieber von meiner kunstvollen Erleuchtung von vor genau einem Jahr berichten, die in einer Sensation hätte enden können. Oder noch kann.

Es war unüblich heiss in Zürich, und eine piekfeine Galerie am stinknoblen Paradeplatz hatte seit Monaten den kolumbianischen Maler Fernando Botero im Angebot. Botero kennen Sie, auch wenn Sie ihn nicht kennen. Er malt, seitdem er einen Pinsel halten kann, immer dieselbe Art von Figuren, die alle etwas gemeinsam haben: Sie sind keineswegs dürr. Eher so putenmässig. Er hat sogar mal eine Mona Lisa gemalt, die mit ihrem Pfannkuchengesicht allerliebst und wesentlich sympathischer daherkommt als das etwas säuerliche Original.

Weil die Zinsen im Keller und die Immobilienpreise jenseits sind, beschloss ich an einem schönen Sommertag, meine Ersparnisse in einen Botero zu investieren. In Zürich stellte er eine Serie von weiblichen Heiligen aus, die Santas, zehn irgendwo zwischen Kitsch, Kinderfingerfarben und Kunst steckengebliebene Gemälde, aber allerliebst und im Grossformat. Also zog ich mein feinstes Leinen an und den Scheitel grade und begab mich zur Galerie. Der adrette junge Mann dort, der mir nicht eben überarbeitet vorkam, führte mich herum, zeigte mir alles und machte mich insbesondere auf eine Santa aufmerksam, die Botero eigens für die Zürcher Ausstellung gemalt hatte: eine Heilige Regula. Prächtig in einem züriblauen Mantel, einem roten Blutfaden um den Hals, (der ihr künftiges Schicksal als Stadtheilige schon mal andeutete) und mit dem Kopf von Felix unter dem Arm, was, wie wir natürlich alle wissen, eine fiese Geschichtsklitterung ist, denn Felix war sehr wohl Manns genug, seinen eigenen Kopf nach der Hinrichtung noch etwas nordwärts zu tragen, aber hey – künstlerische Freiheit! Meine Wahl fiel also auf die Hl. Regula, aber meine total cool und beiläufig eingestreute Frage nach dem Preis des Bildes forderte dann leider meine ganze Contenance: So gegen eine Million sei jede Santa schon wert, meinte der Jüngling.

Ich ging hinaus an die Zürisonne, weinte bittere Tränen und beklagte meine Armut (das kommt übrigens total gut auf dem Paradeplatz). Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch, wie der Hölderlin zu sagen pflegte, und siehe, da wurde ich erleuchtet und die Hl. Regula sandte mir sogleich die rettende Idee, nämlich, dass die Stadt doch das Bild kaufen könnte (als Linker glaube ich ja nicht an Heilige, aber dafür an den Staat), quasi als Leitheilige fürs Kulturleitbild und als Wandschmuck im barocken Zürcher Ratssaal, wo es hinter meinem Sitz am Täfer, dort, wo ich jede Woche mein müdes Haupt abstütze, wenn ich dem munteren Geplapper der Opposition lausche, noch Platz hätte.

Daher also, Corine Mauch, falls du das hier liest: Nimm sofort den Hörer in die Hand und ruf die Galerie am Paradeplatz an! Vergiss nicht, einen zünftigen Rabatt auszuhandeln, wegen dem Pleitegeier, das müsste drin liegen. Denn wenn Botero hört, dass die Hl. Regula künftig in ihrer Heimat hängt – naja, sie wurde hier geköpft –, lässt er sich ganz sicher auf einen Deal ein. Freu mich!

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Ich, Median

Manchmal wäre es klüger, man würde auf mich hören. Tun die wenigsten und das auch nur selten. Und dann kommt es halt, dass meine Ideen von Organisationen mit einem Gschmäckle aufgegriffen werden, und dann haben wir den Salat. Kürzlich traf mich im Tram fast der Schlag, als ich in der NZZ las, dass Avenir Suisse für das Stimmrechtsalter Null ist. Und für das AusländerInnen-Stimmrecht!

Bis anhin war es ja so, dass ausser dem Mättu und mir keine Sau für Stimmrechtsalter Null war. Allerseits nur Gejohle, wenn ich darüber reden wollte. Und obschon ich den Newsletter dieses komischen Thinktänks abonniert habe, (der übrigens gar nicht so viel vordenkt, sondern eher die Speerspitze der Ideologie ist, gottseidank der richtigen!), muss mir dieser Sinneswandel entgangen sein. Er kommt allerdings auch nur wegen der Demografie zustande, sprich Überalterung. Und wegen der Panik, die Alten übernähmen das Szepter. Denn das Median-Alter in der Schweiz liegt bei 56, das heisst, eine Hälfte der Bevölkerung ist drüber, die andere drunter. Ich liege genau auf dem Median und finde die Argumentation trotzdem bireweich.

Offensichtlich ist Stimmrechtsalter Null eine der Ideen, die für mich das Normalste auf der Welt sind, aber bei anderen nicht. «One man, one vote» ist für mich nicht verhandelbar. Schlicht. Nicht. Verhandelbar. (Auch für Avenir Suisse nicht, notabene.) Und nachdem bis 1971 «man» mit «Mann» übersetzt wurde (wobei die Übersetzer ausschliesslich männlich waren), wird seither «man» mit «Erwachsener» übersetzt, und die ÜbersetzerInnen, Sie ahnen es, sind erwachsen. Beides fälscher geht’s nicht. «Man» heisst Mensch, und kein Mensch ist weder illegal noch stimmlos, und vor allem hat niemand das Recht, eine Grenze im Sinne eines Zensus zu setzen. Das ist Rückfall in tiefstes Mittelalter. All dieser Quatsch mit 15, 16 oder 18! Zu meinen Zeiten waren es noch 20 und noch früher 21. Alleine das beweist ja schon, dass Altersgrenzen reine Willkür sind und nur etwas über die Grenzsetzer aussagen. Wer so denkt, kann geradesogut wieder das Zensuswahlrecht einführen, welches das Stimmrecht ans Einkommen knüpfte. Oder an blonde Haare und blaue Augen… oh, Moment: Supi! Bin dabei.

Jacqueline Fehr mit ihrem Gewichtungsvorschlag bewegt sich auf ebenso dünnem Eis. Warum ausgerechnet eine doppelte Stimme für Junge oder Faktor 1,5 für nicht mehr so ganz Junge? Warum nicht 1,357 für 35,7-altrige? Wo bitte ist die Logik, wo die Stringenz? Wer bestimmt, wo das Jungsein aufhört, wer die Faktorgrösse? Etwa gar eine Abstimmung? Es bleibt Willkür, und Willkür verträgt sich nicht mit Demokratie. «One man, one vote» heisst, dass alle Menschen vor dem Tod und dem Recht gleich sind. Wer das bestreitet, hätte nicht bis hierher lesen müssen.

Und wie bitte? Kinder könnten noch nicht abstimmen? So ein Quark. Sie können auch noch kein Geld ausgeben oder verdienen und trotzdem schon Vermögen haben, das dann halt ihre Eltern verwalten. Genau das würden sie auch mit den Stimmen ihrer Kinder tun, und ein Schelm, wer denkt, das könnten die nicht. Da mangelt es offenbar an Verständnis, was Elternschaft (aber auch Beistandschaft) bedeutet, nämlich die Übernahme von Verantwortung.

Natürlich ahne ich, wo der Klemmer ist. Stimmrechtsalter Null ist kein Schachern, sondern Klarheit. Kein Basar, sondern so absolut, wie die Menschenwürde es eben auch ist. Unteilbar. Unveräusserlich. Die kompromisslose Konsequenz in der Umsetzung von Gleichberechtigung und Fairness. Und es ist wie mit dem AusländerInnenstimmrecht (notabene eine weitere naheliegende Idee): Wer hier lebt, soll auch hier mitbestimmen dürfen – egal welchen Alters.

Aber henu. Es hört ja niemand auf Mättu und mich. Hat nun halt Avenir Suisse die Nase vorn, wenn auch aus falschem Grund. Gönn’ ich diesen Dichtern und Denkern. Müssen auch mal was Schlaues abkupfern.

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Wenn Frau will

Beim Thema Kinder war mir von allem Anfang an klar, dass dies bei mir keine Feierabend-Wochenende-Sache werden soll, sondern dass ich gleichberechtigt und gleichverpflichtet dabei sein wollte. Unsere Arbeitsteilung zuhause erwies sich dann allerdings nicht, wie wir romantischerweise angenommen hatten, als fifty-fifty, da ich wesentlich mehr verdiente als die Mutter meiner Kinder, wir uns also die Gleichberechtigung gar nicht leisten konnten. Den Hort übrigens auch nicht. Später zog ich die Kinder alleine auf. Ich erwähne das nur von wegen street credibility, weil ich muss nach 25 Jahren Frauenstreiktag mal was Heikles loswerden.

Nämlich. Vergessen Sie den Quatsch mit den Fortschritten in der Gleichberechtigung, wie er in den letzten Tagen, wohl aus falsch verstandener Höflichkeit, allerorts geäussert wurde. Die richtige Befindlichkeit zum Geschlechterthema ist die meine: erschüttert und ernüchtert. Ich erkenne keinen Fortschritt. Nicht dass ich davon ausgehe, dass es den in der Zivilisation immer geben müsse, sonst gäbe es ja nicht diese 40 Prozent in den USA, die an den Storch, an Trump oder an die Erde als Scheibe glauben. Aber warum ist es bei der Gleichstellung bei uns, knapp zusammengefasst, in der letzten Generation sozusagen Null vorwärts gegangen?

Beweis. Noch immer jammern wir über einen zu kleinen Frauenanteil in den Berufen. Noch immer sprechen wir in diesem Zusammenhang von einem ‹Potenzial›. Noch immer gibt es Lohndiskriminierung. Noch immer heisst Carearbeit Frauenarbeit, selbstverständlich unbezahlt. Noch immer nehmen in der Regel Frauen bei der Heirat den Namen der Männer an. Noch immer reduzieren nur die Frauen ihr Arbeitspensum, wenn Kinder kommen. Noch immer kümmern sich bei einer Trennung die Frauen um die Kinder. Noch immer gibt es einen Frauenmangel in den Kadern. Noch immer gilt der Allein-Ernährer-Mythos. Noch immer gibt es nur einen mickrigen Vaterschaftsurlaub. Noch immer haben Frauen weniger Geld im Alter. Noch immer… Soll ich weitermachen?

Beispiel. Ich arbeite seit achtzehn Jahren an einer technischen Hochschule. Wir haben das Klassenprinzip, in der Regel zwischen 25-35 Leute. In der Regel davon 1 (in Worten: eine) Frau. Manchmal zwei, aber dann schluchzen wir vor Begeisterung. Seit achtzehn Jahren höre ich, dass das zu wenig seien, dass man etwas machen müsse («Potenzial!»). Ich habe gefühlte 1000 Studien gelesen, was zu tun wäre, wie das geht, warum es nicht geht, was man schon alles versucht hat, und so weiter – nix passiert. Die Quoten stagnieren. Und das ist nur eine Anekdote unter vielen.

Allerdings. Nicht, dass Sie jetzt denken, ich wundere mich. Denn ich weiss schon, warum das so ist. Menschen verändern sich nicht, bloss weil man sie darum bittet, ein bisschen nudget oder ein bisschen aufklärt. Und es nützt auch nichts, wenn Sie mich empört auf das tolle Gegenbeispiel aus Ihrem Bekanntenkreis verweisen. Es ist bloss die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Noch niemand hat demgegenüber versucht herauszufinden, was herauskäme, wenn man die Regel, sprich den finanziellen Anreiz, verändern würde. Zum Beispiel: Bezahl einen saftigen Haushaltslohn und sieh zu, wie die Manager an die Waschmaschinen gumpen.

Natürlich. Wer soll das bezahlen? Sie ahnen es: Wir haben soeben eine gute Gelegenheit für einen ersten kleinen Schritt verpasst. Mit diesem bedingungslosen Dings da. Ich weiss: Sie waren auch dagegen. Mir egal. Aber jammern Sie mir bitte nun nicht nochmals 25 Jahre lang die Ohren voll, die Frauen seien nicht gleichberechtigt und die Männer täten nicht Platz machen. Es ist keine Frage des Rechts. Bezahlen wir die Plätze entsprechend! Setzen wir die Anreize richtig.

Wir sollten endlich erwachsen werden, kollektiv meine ich, und vor allem: ökonomisch. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Behauptete ein Mann.

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Schöner wachsen

Neulich an der Uni, Podium zur Wachstumsgesellschaft. Mehr Leute da als an einer Flugshow, und das ja auch zu recht. Es duellierten sich: der übliche uninspirierte Quotenökonom von der Economiesuisse, Ressourcenökonom Lucas Bretschger von der Uni, Postwachstumsforscherin Irmi Seidl vom WSL und ein Unternehmensberater. Dazwischen der kantige SRF-Broz (ja, der!) mit einer zwar etwas undurchschaubaren Verhandlungsführung, aber das verzeiht man ihm, wenn man ihm schon mal dabei zugesehen hat, wie er den Mörgeli wie ein Ikea-Schuhschränkli zerlegt und aus halb so vielen Teilen wieder zusammensetzt.

Sein zu Beginn geäusserter Wunsch nach einer ideologiefreien Debatte war allerdings etwas eigenartig. Was hat denn das Thema (Null)Wachstum mit Ideologie zu tun? Und umgekehrt: Kann eine Debatte über Wachstum ideologiefrei sein, und weshalb sollte sie? Während Seidl immerhin anmerkte, dass Wissenschaft nie wertfrei sein kann, meint die Economiesuisse ja nach wie vor, dass immer nur die anderen ideologisch seien. Aber das wäre eine weitere Kolumne wert. Danach wechselte man zügig zur Frage, wie unsere Wirtschaft ohne Wachstum funktionieren könnte. Laut Economiesuisse gar nicht, und der süffisante Hinweis, dass verschiedene Solidarwerke bei uns auf Wirtschaftswachstum angewiesen sind, war natürlich ein Abstaubergoal und leider eine Realität, die wir dringend ändern sollten. Wenn nur wer wüsste, wie.

Wirtschaftswachstum hat mit Energieverbrauch zu tun. Beide Grössen sind bei uns, wie das Bundesamt für Energie jedes Jahr sauber ausweist, zu hundert Prozent gekoppelt, auch wenn verschiedene Kreise immer wieder das Gegenteil behaupten. Daher sind anständige Grüne ja auch wachstumskritisch. Zurück zum menschlichen Energiesklaven und zur Pferdestärke ist allerdings keine Lösung. Eine Entkoppelung täte dringend Not, und dazu müssen neue Geschäftsmodelle entwickelt werden. Das wäre denn auch das spannendste Thema dieses Podiums gewesen, aber leider zeigten die Teilnehmenden nicht eben viel Phantasie dabei. Wie man etwa die Menschen in Nigeria oder Venezuela in die Lage bringt, Geld damit zu verdienen, dass sie Erdöl eben gerade nicht fördern, sondern im Boden lassen – das wäre ein nachhaltiger Business Case! Ob das illusorisch erscheint, ist mir, offen gesagt, piepegal. Es ist genauso illusorisch, im übersättigten Orangensaft- oder Waschpulvermarkt noch einen neuen Orangensaft oder ein neues Waschpulver platzieren zu wollen, und trotzdem wird es gemacht. Es ist nicht einzusehen, warum man mit nachhaltigen Geschäftsmodellen nicht auch Geld verdienen kann. Wertschöpfung durch Dienstleistung statt durch Ressourcenverbrauch, reparieren statt wegwerfen, teilen statt kaufen, solche Ansätze weisen den Weg. Wie weit sich alternative Geschäftsmodelle im Raubtierkapitalismus allerdings durchsetzen können, ist die Frage.

Ansonsten wähnte man sich, wie bei diesem Thema leider üblich, an einer Junkie-Debatte. Vor allem die Economiesuisse sollte ihren Drogengebrauch dringend überprüfen. Amartya Sen, der indische Nobelpreisträger, hat einmal gesagt, dass es weniger auf den Verzicht ankomme, als vielmehr auf die Fähigkeit zum Verzicht. Es geht also bei der Wachstumsdebatte um eine dringliche Ausweitung des Handlungsspielraums. Denn wer zum Wachstum verdammt ist, zeigt so viel IQ wie ein Tumor, und wo der endet, wissen wir ja. Vorerst gilt es, unsere Erpressbarkeit zu verringern. Systeme und Organisationen, die auf Wachstum angewiesen sind, sind zu überprüfen. Dabei kann auf Bewährtes zurückgegriffen werden: Allmenden, Genossenschaftsmodelle, Mitbestimmung, Volksaktien und, etwas frischer, das bedingungslose Grundeinkommen. Alles übrigens gut schweizerisch. Und ein Letztes: Gell, Sie haben auch nicht gemerkt, dass unsere Wirtschaft, wenn man pro Kopf rechnet, seit Jahren kaum mehr wächst. Sagt übrigens die Economiesuisse. Wovor haben die eigentlich Angst?

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Artikel, p.s. Zeitung

Jahrhundertpfusch

Heute muss ich Sie leider ein bisschen langweilen. Denn es gibt Themen, die gehen uns gleichermassen etwas an wie sie uns überfordern, und ich rede jetzt nicht von der Präimplantationsdiagnostik, sondern vom ganz banalen Strom aus Ihrer Steckdose. Jede Debatte über Energie oder Energiewirtschaft wird ziemlich schnell ziemlich technokratisch. Die Mechanismen eines europäischen Strommarkts zum Beispiel sind derart komplex, dass eigentlich kaum noch jemand versteht, was abgeht. Natürlich kann man einfach fröhlichen Mist verzapfen, es merkt’s ja eh keiner, manchmal kann man in guten Treuen unterschiedlicher Ansicht sein, und öfters wird die Debatte schlicht für politische Manöver instrumentalisiert, wie das letzthin etwa der Ex-Alpiq-Chef Schweickardt in der Presse vorgeführt hat, ganz nach dem unglaublich originellen Motto ‹Schuld sind die Erneuerbaren›.

Warum zum Beispiel der Marktpreis für Strom europaweit im Keller ist und dort auch noch ein ganzes Weilchen bleiben wird – Alpiq und Axpo sprechen von 2 Rappen pro Kilowattstunde –, ist unterschiedlich erklärbar. Zunächst allerdings ganz simpel: Es gibt ein Überangebot an Strom, vor allem weil der Markt verzerrt wird. Wenn es irgendein Beispiel dafür braucht, dass der freie Markt nur theoretisch (und natürlich auch in Nimmerland) funktioniert, dann ist es der Strommarkt. Sämtliche Staaten in Europa greifen ihren zunehmend unrentabel arbeitenden Stromerzeugern unterstützend unter die Arme, denn Strom ist eben doch nicht einfach nur irgendein Gut, sondern existenziell für die Volkswirtschaften.

Atomstrom, Gas, Kohle, Sonne oder Wind – was auch immer Sie in ihren vier Wänden verbraten, es ist subventioniert, gefördert, steuerentlastet, usw. Und neuerdings hat ja das stinkbürgerliche Parlament in Bern den Willen bekundet, Schweizer Wasserstrom zu subventionieren. Halleluja. Das nenn’ ich die Krankheit zu fördern, indem man sie bekämpft. Kaum ein Kraftwerk kann unter diesen Umständen noch rentabel betrieben werden, fast überall sind die Gestehungskosten höher als die Marktpreise. Die CEO von Alpiq, Jasmin Staiblin, will daher ihre Wasserkraftwerke samt Stauseen an den Meistbietenden verhökern, denn der Markt ist frei und die Not bei Alpiq gross. Aber auch alle AKW stehen im Regen, denn sie produzieren mit über 5 Rappen Kosten und verlieren Tag für Tag Geld. Und sind zunehmend materialmüde. Und verursachen Abbruchkosten in unbekannter Höhe. Und müssen 100 000 Jahre lang endgelagert werden. Frau Staiblin graust’s davor, die BKW haben in Mühleberg die Reissleine gezogen, und die morschen Werke in Beznau werden, so meine bescheidene Wahrsagung, nicht mehr lange leben. Falls bei den Betreibern noch ein Funken Verstand vorhanden ist.

Die AKW-Wirtschaft ist derart gründlich verkachelt, dass auch die Ungebildeten unter ihren Verherrlichern schon lange kalte Füsse haben. Während in Tschernobyl immer noch Menschen an den Spätfolgen der Atomexplosion vor 30 Jahren sterben, während in Fukushima fast täglich neue Überraschungen auftauchen, kämpfen unsere AKW-Betreiber ums Überleben. Der Ausgang ist absehbar: Sie werden verlieren, und wir alle werden das Begräbnis bezahlen. Was nicht zuletzt auch ein Grund ist, warum wir kleine KonsumentInnen nicht von den tiefen Preisen profitieren, denn so ein Begräbnis ist sauteuer. Die Bürgerlichen versuchen, das Debakel den Erneuerbaren in die Schuhe zu schieben und gleichzeitig die Energiewende nochmals und in Richtung Steinzeit zu wenden. Und in der ganzen Aufregung geht der Klimaaspekt der Energiedebatte schneller unter, als das Pariser Abkommen ratifiziert werden kann.

Daher: Gnueg Heu dune! Steigen wir aus dem AKW-Mist aus! Erster Matchball am 5. Juni in Zürich, zweiter Matchball im Herbst mit der Grünen AKW-Ausstiegsinitiative. Lieber ein Ende mit Kosten, als Kosten ohne Ende!

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