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Vespas, bewacht

 

The early bird catches the worm, daher hatten wir frühzeitig unsere Ferien gebucht. In Paris. Also gewissermassen eine Vorkriegs-Buchung. Nicht meine Worte, ich komme darauf zurück. Aber so kam es, dass ich das erste Mal in meinem Leben in einem Gebiet war, wo der Ausnahmezustand herrscht, und so waren diese Tage ein Lehrstück über den Satz von Carl Schmitt, wonach derjenige souverän ist, der über den Ausnahmezustand entscheidet. Und darüber natürlich, wann und wo er nicht so ernst zu nehmen ist.

Denn viel davon gemerkt hat man, touristisch, also oberflächlich gesehen, nicht. Es ist auch nicht möglich, eine Riesenstadt wie Paris vollständig sicher zu machen, und das Weihnachtsgeschäft wollte man sich ja auch nicht vermiesen lassen. Die lokalen Medien meldeten, dass es Zara kurz vor Jahresende gelungen sei, den Sonntagsverkauf und spätere Ladenschliesszeiten gegen den Widerstand der Gewerkschaften durchzudrücken. Na also, geht doch.

Zwar standen abends zwischen fünf und sechs drei Soldaten breitbeinig an einer Strassenkreuzung in unserem Quartier, womit sich das etwas seltsame Bild ergab, dass der Vespa-Händler und das Solarium tipptopp bewacht waren. Und vor den Museen stand man lange Schlange, weil man an den Eingängen zuerst durch Sicherheitsschleusen musste. Dennoch: Sicherheit sieht anders aus. Und nach der Happy Hour waren die Soldaten ja wieder weg. Auch die 11 000 Einsatzkräfte am Sylvester auf den Champs Elysées waren zwar eindrücklich, konnten aber nur schlecht übertünchen, dass das eher der Volksberuhigung diente. Feuerwerk war verboten, dafür liessen die TV-Sender die FestbesucherInnen Durchhalteparolen ins Mic sagen, und in den Ramschläden waren die Frankreichfähnchen heruntergesetzt. Nationale Selbstvergewisserung auf allen Kanälen.

Krieg also. Die Debatte über das Wording ist Jahrzehnte alt. Die westlichen Staaten haben sich bisher immer geweigert, nicht-staatliche gewalttätige Gruppierungen als Kriegsgegner anzuerkennen. Das war so bei der RAF im Deutschen Herbst, das war so im Italien der 80er oder in Algerien, wo Frankreich selbst erst spät den Kampf gegen die algerische Befreiungsbewegung als Kriegseinsatz zugab. Die Sprachregelung war jeweils, es mit kriminellen Banden zu tun zu haben, denn Krieg setzt erstens die Einhaltung gewisser Konventionen voraus, und zweitens agieren Kriminelle nicht auf Augenhöhe, Kriegsgegner aber schon. Erst Georg W. Bush hat das geändert, und wir dürfen gewiss sein, er wusste nicht, was er lostrat. Seither befinden sich diverse Nationen im Krieg gegen den Terror – und das einzige Verwunderliche daran ist, dass sie sich wundern, wenn der Krieg auch auf ihrem eigenen Territorium ausgetragen wird. Und: Die Gegner betrachten sich jetzt natürlich auch als im Krieg, und manche zivilisierte Staaten benehmen sich dafür wie kriminelle Banden.

Man muss denn auch nicht in die Pariser Vorstädte gehen, es genügt schon, etwas in den Norden, etwa nach Belleville zu fahren, wo der Anteil der muslimischen und schwarzen Bevölkerung wesentlich höher ist, und schon wusste man nicht mehr so ganz genau, ob die Soldatinnen und Soldaten eigentlich die Bevölkerung be- oder überwachten. Die Stimmung war – anders, komisch. Man wurde gefühlsmässig in der Einschätzung bestätigt, dass der Krieg in Frankreich auch hausgemacht ist. Der letzte identifizierte Attentäter des Bataclan ist Franzose.

Und bei uns? Gibt es in diesem Krieg eine Schweizer Neutralität? Ich denke nicht. Wer Waffen an Kriegsparteien liefert, nimmt Partei. Und wird zum Ziel. Das ist nur eine Frage der Zeit. Aber wenn es dann soweit sein wird, werden solche Sätze vermutlich gar nicht gut ankommen. Wir werden dann Fähnchen schwenken und Kerzen anzünden. Mais quand même: Bonn’année.

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Vom Geben

 

Von weihnachtlicher Stimmung will ich euch nun erzählen, von milden Gaben, barmherzigen Gebern, vom Betteln und Hausieren, wie es in meiner Kindheit noch per Schild an der Haustür verboten gewesen war, worum sich aber zum Glück weder der Just-Vertreter noch die jenischen Scherenschleifer einen feuchten Christstollen gekümmert haben.

 

Nur: nichts ist mehr wie früher! Die Hausierer wurden vom Internet abgelöst, die Fahrenden sind sesshaft, und die BettlerInnen haben ihre Businesspläne angepasst. Normalerweise wird man am Bahnhofquai von einer dürren Gestalt angehauen, die auf magische Weise ahnt, ob du tagesformmässig bereit bist, einen Zweier rauszurücken. Oder dann kommt so ein Fredi Hinz-Typ, der immerhin eine gute Story auf Lager hat, dich also genau genommen gar nicht anbettelt, sondern dir eine soziokulturelle Leistung verkauft. Also mache auch ich gerne mal den Zuckerberg und spende 99 Prozent meines Hosensackinhalts. So wie neulich auf dem Winterthurer Bahnhofplatz.

 

Es war Morgens vor Neun, und die Dame vor mir entsprach so gar nicht dem üblichen Typus, sondern war ganz anständig angezogen und wohl frisiert und recht deutlich im Rentenalter. Sie fragte mich, ob ich ihr nicht 5 Schtutz geben könne «für einen Kaffee».

 

Und während ich noch darüber nachsann, ob das nun die neue Armut sei, welche bereits den Mittelstand erfasst hat, und ob ein Kaffee in der Pampa wirklich nun auch schon 5 Stutz kostet, lieferte sie mir ungefragt die Erklärung für ihr Ansinnen nach: «Wüssed Si, die Bank geht nämlich erst um 10 Uhr auf.»

 

Und während ich noch darüber nachsann, ob das nun originell sei oder im Gegenteil eher von der Sorte abtörnender Ausreden, die den sich anbahnenden Akt der Nächstenliebe gleich wieder abwürgen, kramte ich schon im Hosensack nach Münzen. Ich zog eine Hampfel heraus, spürte gleichzeitig in den Fingern, dass es nie und nimmer 5 Franken waren, mich daher auch nicht zu einem Bettler machen würden, und drückte ihr das Münz mit den Worten in die Hand: «Mehr hab ich leider nicht.» Und während ich noch darüber nachsann, ob mir nun in der himmlischen Buchhaltung 15 Minuten Fegefeuer abgezogen würden oder ob Gott mir ganz im Gegenteil mein stinkiges Pharisäertum um die Ohren hauen wird, sagte die Dame nicht etwa «Schönen Dank auch der Herr» oder sonst etwas Erwartbares, nein, sie sagte laut und tröstend: «Na, das ist doch schon mal ein Anfang.»

 

Und während ich noch darüber nachsann, ob man sich eigentlich mit offenem Mund eine Erkältung holen kann, war sie schon weg.

 

Auch nicht schlecht gestaunt habe ich ein paar Wochen später am Stadelhofen. Es war schon dunkel, und eine leicht gekrümmte, sehr alte Dame, Zigarette in der Hand, Handtäschlein am Arm und ordeli gekleidet, sprach mich von schräg unten an. Ob ich ihr nicht mit etwas Geld aushelfen könne, sie habe ihr Portemonnaie verloren. Ich erschrak: So sah sie nun also aus, die Altersarmut, gebrechlich, vom Pech verfolgt, ohne Wintermantel, hungrig und in jeder Hinsicht meiner Hilfe bedürftig. Und noch bevor ich über die verschiedenen Implikationen dieses selten blöden Reflexes nachsinnen konnte, oder darüber, wie die coole Zigi in der greisen Hand zu deuten sei, griff ich in die Tasche und fand dort nur ein Nötli. Ich drückte es ihr in die Hand und fand immerhin die Sprache wieder, indem ich ihr den väterlichen Rat gab, sie solle unbedingt ihre Karten, falls vorhanden, sperren lassen. Im Abgang, über die Schulter hinweg, raubte sie mir den letzten Rest an Contenance, indem sie mir seelenruhig mitteilte: «Hani scho lang gmacht.»

Soviel im Moment zum Thema hilfsbedürftig und zerbrechlich, betteln und Advent. Eine Moral gibt’s glaubs nicht. Aber einen guten Vorsatz: Ich nehme mir fest vor, im Alter auch mal so zu werden. Schöne Festtage!

 

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Revitalisierung

 

Und zack! sind alle liberalen Vorsätze wie weggewischt. Nichts mehr mit «Die Freiheit des Individuums hat ihre Grenze allein bei der Freiheit des nächsten!» oder mit «Mehr Freiheit, weniger Staat!» Es braucht nur ein Attentat in der sogenannt freien Welt, und in der NZZ wischt sich der rédacteur en chef den Schaum vom Mund, rückt die Krawatte zurecht und hackt etwas von mehr Überwachung der Kommunikationsnetze in die Tasten und von mehr staatlicher Intervention im Sicherheitsbereich und einer massiven Einschränkung der individuellen Freiheitsrechte. Liberalismus à la carte.

Andernorts reisst man sich am Riemen. Wenige Tage zuvor wurde uns angekündigt, dass das selbst ernannte Leitmedium des Liberalismus das tun werde, was zu erwarten war, nämlich dass es in Form einer ganzen Salve von Leitartikeln der neuen Mehrheit im Parlament den Tarif durchgeben werde. Etwas, was der Köppel zwar jede Woche tut, aber das ist offenbar nur eine Stimme aus der Schmuddelecke. Nein, eine regelrechte liberale Agenda («Was die Schweiz tun muss») wurde uns versprochen, von der Demontage der Altersvorsorge über die Privatisierung der Staatsbetriebe (was nicht mal der FDP-Chef will) über die Seligsprechung des Freihandels (auch in der Landwirtschaft!) bis zur Quadratur des Zirkels (Bilaterale ohne Vergrämung der SVP). Ein Horrorweihnachtswunschzettel der scheinliberalen Ellenbogenpolitik, und das Ganze unter dem hoffnungsfrohen Titel «Revitalisierungskur». Der Tonfall dabei ähnelt einem IS-Pamphlet, alles Böse ist boko haram («Linke Ideen sind Sünde»), und alles Gute, der Weg, die Wahrheit und das Leben kommt von der liberalen Seite, denn es gibt nur einen Gott und die alte Tante ist seine Prophetin.

Reality Check: Was kann denn die neue Mehrheit, die da zur Befehlsausgabe aus der liberalen Ideologiezentrale zitiert wird, ausrichten? Nicht ganz zu Unrecht weist Ruedi Strahm darauf hin, dass das Parlament schon in der vergangenen Legislatur immer wieder weder gross rechts noch links, sondern vor allem defensiv und reaktiv entschieden hat, und dass es schon seit längerem primär dem europäischen und globalen Nachvollzug hinterherhechelt, wenn auch unter Absingen wüster Lieder. Siehe Bankgeheimnis.

Die Mär von der Inhaltsleere des Wahlkampfes, ein Topos der Medien, so vorhersehbar wie Blatters Untergang, hat etwas viel Schlimmeres überdeckt, nämlich dass die Siegerparteien in der Tat keine Rezepte für die Herausforderungen haben, die auf uns zukommen. Als da sind: Ungeheuerlichkeiten wie die postkolonialistische Liberalisierung von Dienstleistungen (TISA), die Staatsgarantie für Konzernniederlassungen (TTIP), die Energiewende inmitten eines kaputten Energiemarktes, der Klimaschutz jenseits des illusorischen 2-Grad-Ziels oder die Flüchtlinge (die notabene nichts anderes tun, als ihre individuelle Freiheit eigenverantwortlich so gut wie möglich zu wahren und sich beispielsweise vor dem IS zu retten).

Da reicht Maulheldentum nicht mehr, da wird auch der Liberalismus Farbe bekennen müssen, was er nun will: den Anschluss ans globale Freihandels-Reich oder die Grenzen dichten, Freiheit nur fürs globale Kapital, aber nicht für die Menschen, Abbau von Handelsschranken unter gleichzeitigem Aufbau von Grenzschranken gegen Flüchtlinge oder das Bekenntnis zur Solidarität auch dann, wenn grad keine Terrorattacke dies gesellschaftsfähig erscheinen lässt.

Ob darum mit Schaum vor dem Mund oder mit dem Sammelruf zur Schlacht: Dem (Neo)Liberalismus stehen strube Zeiten bevor. Anzunehmen ist, dass die Rechte einmal mehr von ihren Widersprüchen ablenken und die innenpolitische Agenda als Ersatzschlachtfeld benutzen wird, weil man sich hier noch als Kampfsau profilieren kann. Vital wie schon lange nicht mehr. Und liberal nur, wenn’s einem passt.

 

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Liebe Swissaid

 

Ich bin ein seriöser Mensch, und daher hatte ich meinen Text für diese Ausgabe schon am Montagabend parat, 24 Stunden zu früh. Wie du dir denken kannst, ging es um die Wahlen vom 18. Oktober, und ich hab, verdammt nochmal, tagelang daran gearbeitet. Aber dann, am Montagabend, fischte ich deinen Brief aus dem Kasten. Zuoberst ein Quote: «Der Klimawandel trifft vor allem die Ärmsten.»

 

Du bittest mich um Spenden für die Klimaflüchtlinge, wie üblich auf raffinierte Weise. Du beschreibst die Auswirkungen eines heissen Sommers auf ein Land wie den Tschad und belehrst mich sachkundig: «Tschad steht auf Platz fünf jener Länder, die durch den Klimawandel am stärksten gefährdet sind.» Und dann, liebe Swissaid, hast du die Chuzpe, mir zu sagen, dass meine Spende dieses Elend lindern könnte. Du schreibst Sätze wie: «Gegen die lebensbedrohlichen Folgen des Klimawandels können Sie etwas tun.»

 

Ja, liebe Swissaid, bei Gott hätten wir etwas dagegen tun können, leider aber nicht erst jetzt, wo die Scheisse bereits am Dampfen ist, sondern in den letzten 20, 30 Jahren, in genau diesen Jahrzehnten, in denen sich ein paar Leute zur Grünen Partei zusammengeschlossen und beschlossen haben, etwas gegen Gefahren wie den Klimawandel zu tun. Aber nicht etwa, indem wir die Folgen mit etwas Geld end-of-pipe-mässig mindern, oh nein, sondern indem wir uns politisch formieren und zusammenraufen und ein Programm formulieren und es einbringen bei den Mächtigen dieser Welt.

 

Was sagen wir Grünen denn seit Jahrzehnten? Hast du uns überhaupt zugehört? Und hast du uns je irgendwie öffentlich unterstützt bei unseren Bemühungen, solche Zustände, wie du sie jetzt im Tschad anprangerst, gar nicht erst geschehen zu lassen? Wo warst du, als wir dich gebraucht hätten? – Nun, du wirst mir jetzt sagen, das sei dir halt nicht möglich gewesen, denn deine SpenderInnen kämen eben nicht nur von den Grünen, und Politik sei eh nicht deine Bühne. Eben.

 

Aber jetzt schreibst du mir einen Brief, nachdem du die einmalige Chance verpasst hast, die politischen Realitäten in diesem Land am 18. Oktober zu beeinflussen, einem Land, das mit seinen protektionistischen Massnahmen wie mit seiner Verherrlichung des Freihandels so viel Unheil anrichtet, auch im Tschad. Wann begreifen du und deine Kumpanen aus der NGO-Szene endlich, dass es nichts nützt, moralisch zu argumentieren, auf Tränendrüsen zu drücken und um Geld zu betteln, solange du an den Machtverhältnissen im «Kopf des Ungeheuers», wie das Che Guevarra nannte, nichts verändern willst, noch nicht mal mit der winzigen und bescheidenen Geste, bei der nationalen Wahl deine Stimme zu erheben? Glaubst du denn ernsthaft, dass du im Tschad etwas ausrichten kannst, solange bei uns die Leute mit dem Geld, das sie dir nicht gespendet haben, ein Zweitauto posten und in den Ferien in die Malediven jetten? Willst du denn bis ans Ende deiner Tage den Mist wegräumen und die Tränen trocknen, die durch eine kreuzfalsche Politik entstanden sind? In der Zeit, in der du Bettelbriefe versendest, hebt sich der Meeresspiegel um einen weiteren Millimeter – und keine Macht der Welt, die das verhindern wollte oder würde. Ja, klar, auch wir Grünen nicht, wir sind klein und herzig. Aber versuchen hättest du es zumindest können, liebe Swissaid.

 

Und weisst du, was mich am meisten fertig macht? Dein Brief an mich ist datiert vom 15. Oktober. Drei lausige Tage, bevor eine Mehrheit des Schweizer Stimmvolkes deine und meine Hoffnungen vernichtet hat, dass wir die Energiewende wenigstens in diesem unserem mickrigen Staat retten könnten. Weisst du, liebe Swissaid, Solidarität ist keine Einbahnstrasse. Du kannst mich schon anbetteln, aber ich erwarte und verlange von dir, dass du und deinesgleichen wissen, wo sie stehen, und Farbe bekennen. Ist das zu viel verlangt?

Stinksauer

Markus Kunz

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Von wegen bedingungslos

 

Es war vor einigen Jahren auf dem Gurten, im tiefsten Winter. Ich war an die erste «Konferenz für Haushalten und Wirtschaften» der Stiftung Zukunftsrat eingeladen, an der sich allerlei linke Spinner und kreative Chaotinnen trafen und innovative Ideen austauschten. Die kleine Badran war dort, der lange Girod, der erneuerbare Rechsteiner und wie sie alle heissen. Und auch ein gewisser Daniel Straub, den ich beim vegetarischen Zmittag traf. Er erzählte mir von einer Initiativgruppe, die das bedingungslose Grundeinkommen nun wirklich mal vorantreiben und konkret zur Sammlung bringen wolle. Ich kannte die Idee schon und versuchte zaghaft, auf ein paar realpolitische Hürden aufmerksam zu machen, aber der Drive beim Tischnachbar war derart gewaltig, dass man spürte: Diese Spinnsieche ziehen das wirklich durch! Ich war begeistert.

 

Sie haben dann gesammelt und es geschafft, und letzthin war die Initiative im Nationalrat, und man muss leider sagen: Selten ist eine visionäre Idee dort derart abgeschifft wie diese. Noch nicht mal die Linke wurde recht warm damit. Auch sie war, um es mit Andi Gross zu sagen, mit dieser Utopie total überfordert. Ich möchte daher an dieser Stelle eine Lanze brechen, weil ich der Meinung bin, dass diese Idee ein paar grundlegende Probleme unserer Gesellschaft ebenso elegant wie radikal lösen, bzw. vorab unseren mehrfach pervertierten Arbeitsbegriff wieder auf die Füsse stellen würde.

 

Zunächst aber: Warum um Himmels Willen wurde es denn im Ratssaal derart emotional? Ich staune immer wieder, wenn Ideen, die ein bisschen grundsätzlicher sind und etwas weniger realpolitisch, wie zum Beispiel auch das Stimmrechtsalter Null, blitzartig zu Schaum vor dem Mäulchen führen. Wie wenn da irgendjemandem etwas weggenommen würde.

 

Dabei ist es ja genau umgekehrt: Ich hab mich an dieser Stelle ja schon einmal über unsere Mickymaus-Ökonomie ärgern müssen, die einen Systemfehler, nämlich die unbezahlte Arbeit nicht in die BIP-Berechnung einzubeziehen, konsequent durchzieht – und sich damit natürlich am Laufmeter selber ins Knie schiesst. Sätze aus der Ratsdebatte wie: «Die Mehrheit der Kommission bezweifelt den Anreiz zur Arbeitsleistung, wenn man den Lohn auch ohne bekommt» (EVP-Ingold) klingen absurd, wenn man bedenkt, dass annähernd dieselbe Arbeitsleistung in unserer Gesellschaft unbezahlt erledigt wird wie bezahlt. Wir lernen also: Lohn ohne Arbeit pfui, aber Arbeit ohne Lohn voll geil! Oder dann Voten wie die vom Ratsherr Stolz: «Arbeit muss sich lohnen, und wenn sie das nicht tut, haben wir ein Motivationsproblem.» Kicher. Der Gute musste bestimmt noch nie zu Hause den Staubsauger in die Hand nehmen oder seinem Kind den Hintern putzen. Oder dann wurde er üppig dafür motiviert, von wem auch immer. Die BDP dagegen weiss: «So funktionieren wir Menschen nun einmal. Wer arbeitet, wer mehr macht, der soll auch mehr dafür erhalten.» Genau!

Und auch die GLP sieht glasklar, wo das endet: «Diese Volksinitiative gefährdet die Wirtschaftsordnung, sie gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt, …» Vermutlich hat der Kollega Weibel solch Weisheiten geschrieben, während ihm seine Frau den losen Knopf an der Weste annähte, damit wenigstens deren Zusammenhalt in der Ratsdebatte nicht gefährdet war.

 

Um nicht ganz missverstanden zu werden: Klar hat die Initiative (teils massive) Mängel, klar haben die InitiantInnen nicht alle Fragen beantwortet – dafür haben wir übrigens einen teuer bezahlten Gesetzgeber –, und ja, jeder «revolutionäre Vorschlag» (Gross) macht zunächst mal Angst.

Aber wie der Glättli so schön sagte: «Ich glaube, um zu leben, muss Politik nicht nur die Kunst des Möglichen sein, sondern auch die Kunst, das Undenkbare denkbar und das Denkbare dann möglich zu machen.» Will heissen: Die Sache ist noch nicht gegessen.

 

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Nüchterner essen

 

Zürich isst gerade. Didaktisch vorbildlich und wie immer nachhaltig. Essen ist mittlerweile definitiv ein Politikum – und fast noch etwas emotionaler als die momentanen Flüchtlingswellen. Aber meinetwegen, reden wir übers Essen! Hier ein paar Anmerkungen zu wichtigen Stichworten.

 

Produktionsbedingungen: Die Bedingungen anzuprangern, unter denen Lebensmittel entstehen, ist zu Recht einer der zentralen Punkte. Nahrungsmittelproduktion gepaart mit kapitalistischen Produktionsbedingungen, das kommt selten gut. Das gilt allerdings nicht nur für tierische Produkte, sondern für alle. Wer als VeganerIn Früchte aus dem spanischen Almeria kauft, wo marokkanische WanderarbeiterInnen unter sklavenmässigen Bedingungen arbeiten und wo der immense Wasserverbrauch zur unaufhaltsamen Versalzung des Bodens führt, wer Gemüse aus Holland postet, das in seinem Leben viel Steinwolle und Nährlösung, aber ganz gewiss keine Erde und Sonne gesehen hat, wer in guter Absicht biologische Früchte aus Israel oder Ägypten kauft, die mehr Flugmeilen intus haben als alle Grünen zusammen, der macht sich genauso zum Nutzniesser unmenschlicher, unökologischer und unethischer Produktionsbedingungen wie Otto und Trudi Aldi. Wer als Vegi im Januar die Schnauze voll hat von den genau 8 Gemüsen, die frisch bei uns erhältlich sind und sich daher eine Erweiterung der Palette gönnt, hat bereits Ja gesagt zu Energie- und Ressourcenverschwendung, Ausbeutung und Umweltvergiftung.

 

Ethik: Ein Minenfeld. Schlachthäuser haben ihren Namen zu Recht. Aber auch wer kein Fleisch isst, ist nicht etwa fein raus, sondern sollte etwas besser darauf achten, welche Menschen seine Nahrungsmittel zu welchen Bedingungen herstellen müssen. Man muss dazu übrigens nicht nach Almeria, es reicht schon, zu Nationalrat Schibli («Schweizer Landwirtschaft – Schweizer Qualität!») aufs Gemüsefeld zu gehen. Oder zu den polnischen SpargelstecherInnen nach Flaach. Mit den heutigen Lebensmittelpreisen machen wir uns alle zu KomplizInnen ausbeuterischer Strukturen. Dass allerdings Millionen Tiere jedes Jahr umsonst getötet werden, weil sie Opfer von Foodwaste werden (6 Prozent des Fleischkonsums), ist einer der grossen Skandale unserer Zeit.

 

Gesundheit: Ich denke, niemand weiss mit Gewissheit, was gesund ist und was nicht. Für jede These gibt es Belege und Gegenbelege. Manchmal sogar Beweise. Bis zum Beweis des Gegenteils. Einigen wir uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Nur eine ausgewogene Ernährung ist gesund. Nichts sonst. Also ganz furchtbar banal: von allem etwas und von nichts zu viel.

Fleisch: Nichts gegen ein Rind, das in der Gegend bio-dynamisch mit Gras aufgewachsen ist, vom Störmetzger gemetzget wurde und im Lädeli zum angemessenen Preis, also sauteuer, verkauft wird. Alles gegen den obgenannten Skandal der Massenproduktion, die nie tiergerecht sein kann, so sehr sie sich auch bemühen sollte, und die, quasi als Kollateralschaden, den Regenwald zerstört. Das Vieh der Reichen frisst heute, noch mehr als bei der Erfindung dieses Slogans, das Brot der Armen. Und daneben vernichtet es auch noch furzend und rülpsend das Klima. Fleisch in Mengen ist eine Katastrophe. Aber Fleisch als Nahrungsmittel eben nicht.

 

It’s the region, stupid! Es gibt nur eine Lösung, welche all diese Aspekte zumindest theoretisch aufzufangen vermag: die regionale, saisonale, biologische und mindestentlöhnte Nahrungsmittelproduktion. Sie ist etwa doppelt so teuer (was in Anbetracht des lachhaft geringen Anteils am Haushaltsbudget, den die Lebensmittel bei uns ausmachen, voll o.k. ist), umwelt- und sozialkompatibel, tier- und menschengerecht. Und, wie wir heute wissen: Man könnte damit die Welt ernähren. Mit Veganismus, Vegetarismus, Karnivorismus, Flexitarismus, Fruitarismus und so weiter hat das alles übrigens recht wenig zu tun.

 

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Sippenhaft statt Solidarität

 

Ja, danke, Ferien waren gut. Ich bin trotzdem stinkig, vielleicht ist es besser, Sie halten Ihre Kinder vom folgenden Text fern.

Ich bin ja nun wirklich nicht der Typ, der immer grad sofort in Paranoia verfällt, kaum hat ihm das System mal einen kleinen Gingg versetzt. Ich hab nicht gebrüllt, als damals die Militärersatzabgabe vereinheitlicht wurde, ausgerechnet nur ganz kurz, bevor ich in den Genuss eines reduzierten Ansatzes gekommen wäre. Ich habe auch keine Bomben geschmissen, als die Kinderzulagen nach jahrelangem Kampf endlich erhöht wurden – nur gefühlte zwei Stunden, nachdem meine Kinder erwachsen wurden. Und ich nehme klaglos hin, dass ich zu meiner nicht geringen Verblüffung offenbar ein Kollegenschwein bin, weil ich seit Jahren die höchste Franchise habe und meine sämtlichen Arztrechnungen selber bezahle, keinen Rappen aus der Krankenkasse beziehe und mir nun ausgerechnet von Bundesrat Boule de Billard vorhalten muss, das sei unsolidarisch.

 

Aber seit kurzem weiss ich auch noch, dass ich als Babyboomer die Hauptursache für den Zusammenbruch des wichtigsten Solidarsystems bin, der Altersvorsorge. Und dass ich daher ebenso klarerweise gefälligst ein Opfer, ach was, grad einen Riesenscheisshaufen Opfer bringen muss, damit sich das ändert. Aber jetzt reicht’s. Soviel Perversion des Solidaritätsbegriffs hält man ja im Kopf nicht aus.

Wie immer, wenn’s soweit ist, werde ich daher mein Mantra zitieren. Setzen Sie sich bitte nun alle zusammen, synchron mit mir, im Schneidersitz aufs Parkett, legen Sie die Hände auf die Knie, schliessen Sie die Augen und sagen Sie laut (der Nachbar solls hören, den geht’s auch an): «Ich lebe verdammt nochmals immer noch in der reichsten Stadt des verflucht nochmals (fast) reichsten Kantons des verdammt nochmals reichsten Landes der Welt.» (Ich hab ja gesagt, halten Sie die Kinder fern.) Und auch wenn ich ja weiss, dass unsere Bemühungen um etwas mehr Solidarität bei der Umverteilung dieses Reichtums grad kürzlich anlässlich der Erbschaftssteuer wieder gescheitert sind, so will es mir doch nicht in den Kopf, dass ich jetzt dafür doppelt solidarisch sein soll, nur weil meine Elterngeneration halt zur gleichen Zeit die Idee mit dem Gebären hatte, so dass es mehr von mir gibt als von anderen Jahrgängen.

 

Was sonst soll denn der Begriff der Solidarität bitte schön ausdrücken als eben genau das, dass eine Gesellschaft dafür da ist, solche Unebenheiten in der Demografie auszugleichen, indem sie in den Zeiten, wo ein Mehrbedarf an Geld besteht, dieses auch dort holt, wo es ist? Genau das macht das System bei mir ja seit Jahrzehnten! Es kann doch nicht sein, dass Solidarität nur gelten soll, wenn man es sich grad mal leisten kann. Das ist nämlich dieselbe kranke Haltung, welche von den Frauen ein ‹Entgegenkommen› beim Rentenalter 65 verlangt, quasi als Sahnehäubchen dafür, dass sie vorher vier Jahrzehnte zu einem tieferen Lohn gearbeitet haben.

 

Die Generationenbuchhaltung bringt es an den Tag: Ich habe, wie alle anderen vor mir und nach mir auch, als Kind von der Gesellschaft profitiert und Geld bezogen. Und ich werde das ab 65 wieder tun, weil wir genau dafür eine Altersvorsorge haben. Dazwischen habe ich, da immer irgendwie arbeitstätig, mehr einbezahlt als bezogen, so wie es der Regelfall ist. Und wenn die Demografie, die übrigens ja wohl die berechenbarste Grösse im ganzen Riesenschlamassel ist, dazu führt, dass vorübergehend ein Bilanzfehlbetrag entsteht, dann sind daran nicht die Babyboomer schuld, sondern die Finanzierungsquellen.

Dass ich weniger erhalten soll als die vor mir und die nach mir, bloss weil meine Generation mehr Köpfe aufweist, ist weder logisch noch fair. Sondern es bedeutet schlicht und ergreifend, dass wir das Solidarsystem durch das der Sippenhaft ersetzen.

 

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Stirb wirtschaftlich

 

Das Sterben geht weiter. Nein, nicht das im Mittelmeer, in Syrien oder in Nigeria, bzw. das zwar auch, sondern natürlich das Lädelisterben. Marinello verkauft, die Migros triumphiert. Manor – naja, kein Lädeli – muss gehen, Swiss Life lässt gehen. Und im Quartier geben sich die Barbetreiber häufiger die Klinke in die Hand, als der Trinker sich an die neue Barkarte gewöhnen kann. Das erstaunt niemanden. Aber das Geschrei in sämtlichen Redaktionsstuben in der Region Zürich, das erstaunt mich dann doch. Ein einzig Heulen und Zähneklappern, wenn das eintritt, was logischerweise immer eintritt, weils im System liegt.

 

Schwer verständlich, warum lauter brave Kapitalisten in ihren gut gepolsterten Redaktionssesseln sitzen und sich darüber aufregen, dass der Kapitalismus funktioniert. Wenn er das ausnahmsweise ja mal tut! Nicht so wie beim Taxigewerbe. Sondern so wie an der Bahnhofstrasse, wo die noch etwas Grösseren die Grossen fressen. Karl Marx höchstselbst hat gesagt, das Kapital neige dazu, sich zu akkumulieren, oder salopp zusammengefasst: Gross frisst klein. Was auch indirekt funktioniert. Also zum Beispiel hat jetzt grad eine kleine Bäckerei in meinem Quartier, die auch am Sonntag offen hatte, ganz zugemacht. Das könnte eventuell damit zu tun haben, dass in 30 Metern Luftlinie eine Filiale einer Innerschweizer Bäckereikette eröffnet wurde, die auch am Sonntag offen und zudem definitiv den längeren Schnauf hat.

 

Nicht, dass Sie jetzt denken, ich fände das gut. Aber auf die Schnelle ändern kann ich’s auch nicht. Was wir da erleben, ist jetzt eben diese berühmte Marktwirtschaft, und die geht so: Um überleben zu können, brauchst du mehr Marktanteile, und da der Detailhandel ein gesättigter Markt ist, machst du das, indem du einen Konkurrenten schluckst. Und, um auf die Migros zurückzukommen: Da der COOP zu dick ist, um ihn zu fressen und dir immer noch der Denner im Dickdarm herumhängt, frisst du gescheiter ein Lädeli.

 

Das ist auch der Frau Barandun vom Zürcher Gewerbeverband offenbar neu. Die Post schliesst ihre berühmteste Filiale an der Fraumünsterstrasse, natürlich aus finanziellen Gründen, what else, und die Frau Gewerbepräsidentin lässt sich in der Tageszeitung mit den Worten zitieren, früher habe die Post den Service public hochgehalten, inzwischen scheine «die Kostenoptimierung im Vordergrund zu stehen». Heiliger Detailhandel! Jetzt spricht der Gewerbeverband schon wie der VPOD, da kommt man ja ganz durcheinander.

 

Einzig, was weder Marinello noch Marx vorausgesehen haben: Dass sich der Patron Marinello, damals noch als Gewerbeverbandspolitiker, für verlängerte Ladenöffnungszeiten eingesetzt hat, obschon ihm klar sein musste, dass dies nur den Grossen nützt, und er sich nun ebenfalls lauthals beklagt, dass die Grossen das ausnutzen, ist schon irgendwie zum Brieggen. Mein Mitgefühl gilt allerdings eher seinen Verkäuferinnen, er muss sich nur noch mit seinen Millionen herumschlagen.

 

Und der Redaktionsschnösel von der Falkenstrassentante, der sich darüber echauffiert, dass er seinen regionalen Käse nun im Grossverteiler kaufen muss, kann sich ja mal in seiner Hausdruckerei melden und die NZZ-Drucker, die soeben entlassen wurden, mit ein paar Käsehäppchen und ein paar schönen Erinnerungen an seine Einkaufserlebnisse beim Marinello aufmuntern. Weil, der Kapitalist schleckt nicht immer nur Zucker, wo denkt ihr hin, er hat im Gegenteil ein beinhartes Leben, und manchmal muss er halt auch ein paar beinharte Entscheidungen treffen, um überleben zu können, und so schleift er denn auch schon mal eine Druckerei, auch wenn’s nicht unbedingt Not täte. Und jammert dann über den Verlust der guten alten Zeit, in der die Lädeli noch läbig und ohnehin alles besser war.

 

Es scheint also doch kein richtiges Überleben im falschen zu geben.

 

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Von wegen Jugend

So richtig alt kommst du dir erst vor, wenn du dir im Museum begegnest. Das ist mir zwar schon vor fünf Jahren passiert, als ich an einer Ausstellung zur Jugendbewegung in den Städten alte Bekannte traf, natürlich nur auf Fotos. Aber so richtig los geht es jetzt mit dem Abfeiern der Zürcher Unruhen, obwohl ein 35-Jahre-Jubiläum ja eigentlich ziemlich gesucht ist.

 

Erinnern wir uns also, bruchstückhaft, an den Umgang mit der Jugend vor 35 Jahren. Natürlich nicht mit der ganzen Jugend, wie die Landjugend schon damals nicht müde wurde zu betonen, aber mit einem Teil, dem mit den Schlagzeilen. Damals in den 80ern, als Züri brannte, war das Weltbild der städtischen Machthaber simpel: Es gab Drahtzieher und Mitläufer. Drahtzieher (war nicht Klaus Rosza dabei?) waren Leute, die teilweise mit knackigen Methoden bis hin zur Präventivhaft kaltgestellt wurden. Will heissen, das wurde versucht, klappte aber nicht. Dies, weil die Drahtzieher gar keine waren, sondern einfach nur eine grössere Klappe hatten als wir, die Mitläufer. Dass diese versimpelte Kommandostruktur noch nicht mal den Spitzeln auffiel, die auf die Bewegung angesetzt waren, ist auch im Nachhinein erstaunlich, aber bezeichnend für den Dilettantismus der Polizei. Der Stadtrat stand dem allerdings in nichts nach. Derart weltfremd, hysterisch und rachsüchtig wie die damalige Exekutive hat sich nie wieder eine Gruppe PolitikerInnen in Zürich verhalten.

 

Trotz unbesiegbarem Humor der Bewegung war rein gar nichts zum Lachen. Weder die staatliche Zensur von Film und Zeitschriften noch die Berufsverbote, weder die Repression noch die Schleifung des AJZ, weder dass die Behörden die Entstehung der Drogenszene verschliefen, noch die dauernde Manipulation der Öffentlichkeit. Nicht zu vergessen die Todesopfer: Dani, Michi, Renato, Max, siehe Richard Dindos Film dazu, oder Silvia, die sich auf dem Bellevue angezündet hat.

 

Ich boykottiere heute noch die Bar im Rondell, die von der Stadt subito eingerichtet wurde, weil wir den Innenraum als Erinnerungsstätte nutzten. Und auch mir ist das allmorgendliche Kratzen der Schaufeln noch im Ohr, mit denen die nächtlich angebrachten Blumen und Kerzen entfernt wurden. Das kennt man aus Diktaturen. Das war derart schäbig, niederträchtig und gleichzeitig spiessig, dass man unschwer erahnen kann, weshalb Wut und Hass unsere Befindlichkeit prägten, auch und gerade bei Demos. Ich erinnere mich an den Tag, als die Trachtengruppe Urania mit ihren lächerlichen Korbschilden auf der einen Seite der Quaibrücke stand, wir auf der anderen. Und mittendrin Pfarrer Sieber mit seinem Esel. («Ich fühlte mich klein, mein Esel kämpfte mit dem Tränengas.») Ich nehme an, dafür kommt er in den Himmel, denn an diesem Tag, da bin ich mir sicher, hätte es mehr als nur ausgeschossene Augen gegeben. Es war ausweglos. (Der Ausweg bestand dann, wie man weiss, im Needle-Park oder im Gang durch die Institutionen. Und einige wenige wurden Polizeichef.)

 

Natürlich, es gab auch Silberstreifen am Horizont, zum Beispiel vier jugendliche Gemeinderäte bei den Wahlen 1982. Und es gab diese enorme Schaffenskraft im Kulturbereich, von der man sagt, sie habe die Stadt bis heute geprägt. Bis heute ist allerdings auch eine Menge Borniertheit vieler BürgerInnen und PolitikerInnen geblieben, wenn es um andere Ansichten, andere Lebensformen und andere Auffassungen von Bewegung geht. Ausgenommen natürlich, man könne Geld verdienen damit.

 

Fassen wir also nochmals kurz zusammen: Bespitzelung, Präventivhaft, Repression, Zensur, Berufsverbote, zwei zu Tode Gehetzte, ein Erschossener, ein zu Tode Geknüppelter. Und eine Selbstverbrennung. Zürich und seine Jugend vor 35 Jahren. Wie hiess es doch so schön an einer Mauer am Zähringerplatz: «Ihr wollt nur unser Bestes. Aber ihr bekommt es nicht.»

 

 

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Artikel, p.s. Zeitung

Von Luxus und Moden

 

Vor ein paar Jahren bekam ich Post. Nun gut, werden Sie sagen: tolle Kolumne, passiert mir ja nie. Aber solche Post bekommen Sie in der Tat nie, denn über der absolut richtigen Anschrift stand «Fidelio AG». Dabei handelt es sich nicht um die politisch korrekt schlachtreif aufgezogenen Schweinchen von Porco Fidelio, sondern um diesen Kleiderladen am Münzplatz. Also nobel. Und nein, ich wusste bis dahin auch nicht, dass ich der CEO dieses Ladens wäre.

 

Item, die Post kam von einem der angesagten Immobilienvermittler im Dunstkreis der Bahnhofstrasse und beinhaltete auch ein leckeres Mietangebot im leicht höher segmentigen Bereich, das ich leider, mangels Kleiderladens, ausschlagen musste. Ich stellte per Mail die Sache sofort richtig und schlug vor, mich aus der Adresskartei zu streichen. Es kam nie auch nur ein Echo, und ich wurde auch nie gestrichen.

 

Und da ich fand und immer noch finde, ich hätte dem Recht Genüge getan, lese ich seither immer gerne die Post, die mal aus Geschäftsberichten, mal aus weiteren Leckereien aus der mir ansonsten nicht sehr zugänglichen Welt des Luxus und der Moden besteht.

 

So auch letzthin. Kam doch ein Prospekt mit einer Kurzfassung der neuesten Retail Market Study. Kostet Sie ein Schweinegeld, falls Sie ein gedrucktes Exemplar kaufen wollen. Ich dagegen verfüge nun über die wichtigsten Appetithäppchen, die ich aber, ganz der alte Sozi, gerne mit Ihnen teile.

 

Zürich ist die fünf-teuerste Stadt der Welt, was die Mietzinsen betrifft. Wobei ich jetzt natürlich nur von den Retailern spreche, also von den Lädeli. Während Sie in New York satte 2512 Euro bezahlen, wenn Sie ums Verworgen an der Fifth Avenue Ihr Gemüse verkaufen wollen, und immer noch 1152 an der Madison Avenue, legen Sie bereits in London an der New Bond Street nur noch 1244 hin, an der bekannten Carnaby Street schlappe 573 oder in Paris an den Champs Elysées 1355 Euro –… wie bitte? Ach ja, ich vergass: per Quadratmeter und Monat, was dachten Sie denn!? Pro Jahr? Schnusig.

 

Zürich dagegen kostet Sie an der Bahnhofstrasse 1172 Euro, was ja heutzutage jedes Kind im Kopf in Franken umrechnen kann, und dann geht’s rapide abwärts, denn am Rennweg kostet es nur noch 354 und am Bellevue verdächtig ramschige 185 Euro. Das sind die Top-Preise. Der Durchschnitt beträgt gemässigte 881 Euro an der Bahnhofstrasse und 232 am Rennweg. Wenn Sie also ein Lädeli von 100 m2 an der Bahnhofstrasse betreiben wollen, dann liefern Sie … über eine Million an Mietzinsen ab (ich musste das im Taschenrechner zweimal eingeben, pardon). Da soll noch einer behaupten, die Personalkosten seien in der Schweiz der grösste Anteil bei den Betriebskosten.

 

Aber man soll ja nicht nur vom Geld reden. Es gibt weitere wichtige Nachrichten aus der Retail-World. So etwa, dass die TokioterInnen wahnsinnig sind vor Freude, denn IWC Schaffhausen eröffnete endlich seine lang ersehnten Boutique in Ginza. Oder, dass Indiens führende Luxus-Uhrenmarke ausgerechnet Ethos heisst. Oder dass der Plastikspielwarenhersteller Toys«R»Us jetzt endlich auch in Wuhan zu finden ist. Oder dass IKEA ein Lädeli in Xi’an eröffnet, dem Geburtsort, wie die Studie weiss, einer der ältesten Kulturen der Welt. Da fehlte wirklich nur noch das Billy-Regal. Oder das Kinderbett «Gutvik». Oder schliesslich, dass es in Lima kein Problem mehr sei («not surprising»), 50 000 Dollars für ein paar Anzüge von Ermenegildo Zegna auszugeben.

 

Und so weiter. Ich weiss, Sie hätten gerne noch mehr gehört, aber mein Platz hier ist beschränkter als an der Bahnhofstrasse. Mein Fazit: Mann, was bin ich froh, dass ausgerechnet ein paar SozialdemokratInnen sich dafür einsetzen, dass der Manor an der unteren Bahnhofstrasse bleiben darf! Friede den Hütten! Krieg den Palästen!

 

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